Am 9. Juli 1988 spielten Die Ärzte das (vorerst) letzte Konzert ihrer Karriere. 1500 Fans und viele langjährige Wegbegleiter der Band kamen zur Show im Kursaal von Westerland auf Sylt. Es war ein unzweifelhaft legendäres Finale, denn schon Monate zuvor hatte das Trio seine Auflösung bekannt gegeben, begleitet von einer Abschiedstour.
Es ist Fettes Brot zu wünschen, dass das für 1./2. September geplante Brotstock auf der Trabrennbahn Bahrenfeld ähnlich spektakulär wird. Auch hier gilt: Schon Monate zuvor hatte die Band klar gemacht, dass dies der Schlusspunkt hinter ihre Karriere sein wird. Auch hier gab es eine Abschiedstour. Und auch hier hängt die Entscheidung zum Ende der Band vielleicht ein bisschen damit zusammen, dass die Sittenpolizei des zuständigen Genres diese drei Typen vielleicht immer ein bisschen zu albern (siehe die obskuren Erklärungen für den Bandnamen hier wie dort) und erfolgreich fand und sich ein bisschen zu sehr darüber gewundert hat, wie bereitwillig sie die kreativen Möglichkeiten ergriffen haben, die sich durch die unverhoffte Aufmerksamkeit geboten haben (bei den Ärzten kann man beispielsweise den Film Richy Guitar zu den Ergebnissen dieses Freigeists zählen, bei Fettes Brot sicher unter anderem die Zusammenarbeit mit James Last).
Wie passend diese Parallele auch schon zwanzig Wochen vor Brotstock erscheint, macht vor allem der Titel des Livealbums deutlich, das Die Ärzte damals von ihrer Abschiedstour veröffentlichten: Nach uns die Sintflut. Das ist genau der Gedanke, der auch die Show von Fettes Brot in Leipzig prägt, nicht nur, weil das Bühnenbild mit der MS Yasmin rund um ein Schiff aufgebaut ist. König Boris, Björn Beton und Doktor Renz wissen sicher, dass auch einige Fans in die Quarterback Immobilien Arena gekommen sind, die vielleicht nur Bettina oder Nordisch By Nature kennen und eine Greatest-Hits-Show erwarten. Aber sie haben eindeutig keine Lust, bei ihrem letzten gemeinsamen Auftritt in dieser Stadt bloß das Übliche auf die Bühne zu bringen. In den rund zwei Stunden gibt es stattdessen die Tracks, auf die sich richtig Lust haben, und viele Lieder, die vor dem Hintergrund der bevorstehenden Auflösung noch einmal besondere Geltung bekommen.
Wie unberechenbar diese Show werden wird, zeigt schon der Auftakt: Mit Jein hauen Fettes Brot gleich einen ihrer größten Hits raus. Das ist auch deshalb mutig, weil der Abend in Leipzig zeigt, dass die Fans der Band letztlich aus zwei Lagern bestehen: Da sind die Hip-Hop-Leute, die kluge Reime und clevere Referenzen mögen, im Zweifel schon seit den Anfangstagen des Trios. Und da sind die Fans, die zu Emanuela (was in Leipzig kurz Richtung EBM und dann in Richtung Mega-Rave abbiegt) und Bettina (was auch 90 Prozent der Menschen auf den Sitzplätzen in der Arena zum Hüpfen bringt) eskalieren möchten. Jein ist eines der wenigen Lieder, das beide Gruppen vereint, die Reibung zwischen diesen beiden Polen sorgt indes für viel zusätzliche Spannung während des Konzerts.
Mit insgesamt zehn Leuten auf der Bühne bekommt etwa ein Frühwerk wie Rock Mic’s einen Extra-Kick durch die Bläser und zugleich eine Lounge-Atmosphäre, die gut zum mittlerweile gediegenen Alter der Band passt. Auch danach erweist sich als Pluspunkt, wie viel Raum hier für Musikalität bleibt, vom jazzigen Klaviersolo über feine Soul-Bläser bis zum kurzen Metal-Schlagzeuggewitter oder dem Gastauftritt von Gitarrist Pascal Finkenauer am Mikro in Tagen wie diesen während der Zugabe. Songs wie Echo, Kannste kommen oder das erst mit Samba, dann mit Blurs Song 2 angereicherte Erdbeben beweisen live, dass sie immer noch ein wenig unterbewertet sind (wohl nicht das Schlechteste, was man über eine Band auf ihrer Abschiedstour urteilen kann), Kracher wie Da draußen funktionieren so blendend wie eh und je und lassen nach einer knappen Stunde den Schweiß- und Endorphin-Pegel auch auf der Bühne erstmals nahe an den roten Bereich kommen.
Dazwischen gibt es immer wieder Momente, die dafür sorgen, dass man sich im Wissen um das absehbare Ende von Fettes Brot die Augen reibt angesichts der Geschichte dieser Band. Zur Erinnerung: Als sie sich 1992 gegründet haben, ging Helene Fischer noch zur Grundschule. Tupac war genauso quicklebendig wie Kurt Cobain, der Wu-Tang Clan fand gerade erst zusammen, Windows 3.1 wurde auf 3,5-Zoll-Disketten ausgeliefert und Capital Bra war noch das Schlimmste, was dem Hodensackinhalt seines Vaters hätte passieren können. Wie lange das alles her ist, zeigt unter anderem eine Diashow unmittelbar zu Beginn des Konzerts. Einen der größten Lacher bekommt da ein Foto mit einem sehr jungen Joko Winterscheidt, später witzeln Fettes Brot beispielsweise über mittlerweile nicht mehr ganz so gut sitzende Outifts (die Jacke aus dem Videodreh von The Großer). Es gibt immer mal wieder Momente während des Konzerts, in denen man sich wundern kann, dass ausgerechnet diese Typen mit ausgerechnet dieser Musik so eine Erfolgsgeschichte hingelegt haben – und dass sie sich womöglich manchmal noch selbst fragen, wie das passieren könnte, gehört zum Charme dieses Abends.
Schwule Mädchen (noch so ein Lied, das die Wortspiel-Rap-Fraktion mit den Gassenhauer-Fans versöhnt) beschließt die Show, davor spielen Fettes Brot ein paar Songs in ihrer (wie sie das nennen) Schülerband-Besetzung mit Gitarre, Schlagzeug und Bass. Bei Was in der Zeitung steht oder Trotzdem kann man da nicht anders als an die Beastie Boys und deren Punk-Ausflüge (und -Wurzeln) denken und erneut nur den Hut ziehen davor, wie kompromisslos diese drei Musiker hier diese letzte Chance auf kreatives Austoben ergreifen.
Die Ärzte waren fünf Jahre nach ihrer Trennung wieder da. Bei Fettes Brot sollte man von so einer Wiedervereinigung besser nicht ausgehen: Sie haben mehr als 30 Jahre existiert (statt sechs), sie sind zum Zeitpunkt des Splits in Summe rund 150 Jahre (statt circa 75) alt und sie haben vor allem erkannt, dass diese Band vielleicht noch ein paar sehr, sehr gute Lieder hervorbringen könnte, aber so, wie sie anno 2023 dasteht, genau den richtigen Status hat, um würde- und verdienstvoll abzutreten, ohne daraus eine reine Nostalgie-Orgie zu machen. Dazu kann man Björn Beton, König Boris und Doktor Renz (und natürlich allen, die bei Brotstock dabei sein werden, wo die Nach uns die Sintflut-Attitüde sicher noch stärker ausgeprägt sein dürfte) nur gratulieren.