Das Bild ist sehr naheliegend in diesen Tagen, aber man muss wohl doch ein Künstler wie Bosse sein, um seine Bedeutung zu erkennen und es als Metapher für ein Liebeslied zu begreifen. In Nebensaison (****) schlendert er zunächst durch einen tristen Urlaubsort, der weder mit schönem Wetter noch mit vielen Gästen oder dem sonst üblichen Halligalli glänzen kann. Diesen Zustand konnte man in etlichen Kurorten, Seebädern oder anderen Ausflugszielen zuletzt ja sehr regelmäßig beobachten, durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie wirkten viele Tourismushochburgen selbst in der Hauptsaison manchmal äußerst trostlos. “Wie die Jalousien bin ich ganz unten”, heißt die Ausgangssituation in diesem Setting dann im Song, und von dieser Selbsterkenntnis aus führt der Gedanke nach außen, zum Gegenüber. Aus dem brachliegenden Ferienort wird die Frage, wie stabil eine Beziehung ist. Schließlich ist man auch selbst nicht immer spektakulär, unterhaltsam und herausgeputzt, sondern manchmal eben wie Harzgerode im Nieselregen. Und natürlich beweist sich in solchen Momenten, wie eng und belastbar eine Bindung wirklich ist. Kann man sich fallen und gehen lassen, im Vertrauen darauf, dass – um im Bild zu bleiben – die Reise nicht storniert wird? “Liebst du mich auch noch in meiner Nebensaison?”, lautet die Frage, und Bosse schlägt diesen Bogen gewohnt einfühlsam, erfindet das Verb “plitschen” und hat noch ein Ass im Ärmel: Den Song, der auf dem aktuellen Album Sunnyside schon vertreten ist, hat er als Duett mit der großartigen Nora Tschirner neu aufgenommen. Die Stimmen der beiden harmonieren wunderbar, durch die unterschiedlichen Perspektiven wird auch die Aussage des Lieds noch eindringlicher. Und Nora Tschirner nach dem Abschied bei Prag mal wieder singen zu hören, ist natürlich auch ein großes Vergnügen.
Auch Haiyti macht in ihrer neuen Single Sterben (****) den Stresstest für eine Beziehung. “Du sagst, du würdest sterben für mich / ich will nicht, dass du’s tust / ich will nur, dass du weißt: Ich hab’ es versucht”, heißt es darin. Es geht aber nicht nur um (vermeintliche) Opferbereitschaft, sondern auch um den Unterschied zwischen Vertraut- und Verbundenheit, um Machtkämpfe, Egos und die bequeme Position, sich im Ruhm / Glanz / Komfort des Gegenübers einzurichten. Kaum zu fassen ist dabei nicht nur, wie klug und unverwechselbar sie das irgendwo zwischen Trap und Dancehall wieder umgesetzt hat, sondern auch, dass der Song schon wieder eine neue Platte einläutet: Speed Date, das dritte Haiyti-Album innerhalb von zwölf Monaten, ist am 3. Dezember erschienen.
Von so viel Output können Fans von Warm Graves nur träumen. Nachdem das Projekt um den Elektronik-Komponisten Jonas Wehner aus Leipzig zuletzt immerhin die Neuveröffentlichung des Debütalbums Ships Will Come aus dem Jahr 2014 angekündigt hat, gibt es nun tatsächlich einen Nachfolger. Ease wird am 25. Februar 2022 über das Londoner Label Fuzz Club erscheinen. Einen Vorgeschmack gibt es mit der Single Neon (***1/2), der ersten neuen Musik von Warm Graves seit sieben Jahren. „Für mich führt Ease immer wieder auf die Idee der Transformation zurück, hier im Sinne eines Wandels von Anstrengung zu Mühelosigkeit, von Chören zu Flüstergeräuschen, von Eile zu Geduld”, sagt Wehner. “Die sieben Jahre waren nicht leicht. Es gab viele Wendepunkte in meinem Leben und ich musste einiges dazulernen.” Die offensichtlichste Veränderung in Neon ist in der Tat das Fehlen der Chöre aus Ships Will Come, dafür singt Wehner nun selbst. Dadurch wirkt der Track intimer und düsterer, gelegentlich kann man sich an Cabaret Voltaire erinnert fühlen. Was die fast zehn Minuten lange Single einschließlich des Videos von Samuel Quinn indes als Konstante zeigt: Warm Graves stehen weiterhin für einzigartige Atmosphären, rätselhafte Klangwelten und intelligente Dramaturgien.
Bleiben wir kurz in Sachsen, auch wenn ÄTNA (wohl aus gutem Grund angesichts der Schlagzeilen, die das Bundesland derzeit macht) auf ihr Hauptquartier in Dresden nur noch dadurch verweisen, dass dort am 4. März ihre bis Ende April geplante Push Life-Tour starten soll. Benannt ist sie nach dem zweiten Album des Duos, das am 1. April 2022 herauskommen wird. Wer mit dem Werk von Inéz und Demian vertraut ist, beispielsweise durch das 2020er Debütalbum Made By Desire, weiß schon um die Melange aus Musik, Design, Mode, Performance und Poesie, die man bei ÄTNA finden kann. Die neue Single Trick By Trick (****) unterstreicht das. Im Clip nehmen sie das materialistische Posen aus Rap-Videos im Speziellen und die Fixierung auf Statussymbole im Allgemeinen auf die Schippe, der Sound dazu (produziert von Moses Schneider) ist ebenso eingängig wie irre und scheint einer bisher unbekannten Schnittmenge aus Gwen Stefani und Die Antwoord nachzuspüren. Mit den Goldenen Schallplatten, die da in der Kulisse an der Wand hängen, wird es mit so gewagten Klängen wohl nichts, die Vorfreude auf die nächste ÄTNA-Eruption steigert das aber gewaltig.
Die verschiedenen Spielarten von Kreativität führen auch The Wombats in Everything I Love Is Going To Die (***1/2) zusammen, einem weiteren Vorboten auf das neue Album Fix Yourself, Not The World, dessen Veröffentlichung nun auf den 14. Januar 2022 terminiert ist. Das Cover der Platte hat der Pixel-Künstler eBoy gestaltet, und im Videoclip zur neuen Single erwacht es in animierter Form zum Leben. In einer 8-Bit-Stadt erleben die Wombats, wie schnell die Gefahren des Alltags (Ertrinken, Verkehrsunfälle, Ufos, Stromschläge, herabfallende Blumentöpfe und so weiter) dazu führen können, den Songtitel wahr werden zu lassen. “Das Lied handelt von der Vergänglichkeit des Lebens und damit zugleich von der Schönheit jeder vergehenden Sekunde. Die Schlüsselzeile für mich ist ‘Icarus was my best friend / so I’m gonna make him proud in the end.’ Es ist eine spielerische Sichtweise darauf, das Leben in vollen Zügen zu genießen, auch wenn die Konsequenzen daraus schrecklich sein könnten. Sicherlich kein Aufruf zum Nihilismus, aber vielleicht ein Aufruf, präsent zu sein und die Freude auszukosten, die man in jedem Moment finden kann, in dem man sich befindet”, erklärt Frontman Matthew “Murph” Murphy. Das passt in eine Pandemie natürlich bestens, und klanglich setzt das Trio dabei beispielsweise auf ein paar The-Cure-Referenzen, eine gewohnt heitere Melodie und einen Hauch von New Order. “Wir haben neue Genres erkundet und uns musikalisch weiter entwickelt als je zuvor. Es wird sich für uns immer von unseren anderen Alben abheben, da wir es in drei Städten während eines Lockdowns aufgenommen haben und wir nicht alle zur gleichen Zeit im selben Raum waren”, sagt Schlagzeuger Dan Haggis über Fix Yourself, Not The World. Produziert haben Jacknife Lee, Gabe Simon, Paul Meaney, Mark Crew und Mike Crossey.