Der Norden Hessens ist so dünn besiedelt, dass er von Menschen, die im Rhein-Main-Gebiet leben, manchmal „Hessisch-Sibirien“ genannt wird. Dass aus einer Kleinstadt in der Nähe von Kassel gleich zwei Talente hervorgehen, die eine veritable Musikkarriere starten und nun sogar für ein Feature wieder zusammen finden, ist da schon rein statistisch eine ziemliche Überraschung. Tatsächlich sind Moa und Mia Morgan sogar zur selben Schule gegangen, ihre Eltern kannten sich ebenfalls von der Arbeit. Zwar lernten sich die beiden erst so richtig kennen, als sie längst schon nach Berlin gezogen waren, von der Zusammenarbeit auf der Single Imposter / Popstar (***1/2) sind sie aber gleichermaßen begeistert. Es geht darum, dass man als Mensch auf der Bühne auch in der Musik zum Schauspielern gezwungen ist, zum Vorgaukeln von Glamour, auch wenn es einem gerade dreckig geht, zum Erzeugen eines Images der Unantastbarkeit, auch wenn man vielleicht in einer Krise steckt oder heftig an sich selbst zweifelt. „Es fühlt sich für mich ganz oft so an, als ob alle anderen, die denselben Job machen, ‚echtere‘ Musiker*innen sind als ich. Dass ich allein beim Anblick meines Instagrams manchmal denke, man sieht mir an, dass ich nicht richtig dazugehöre. Dass alle anderen irgendwie authentischer wirken, obwohl ich mich nie verstelle. Und dass ich schon oft Ziele erreicht habe, die ich mir über kurz oder lang gesetzt habe, diese aber nie als wirklichen Erfolg werten konnte, sondern immer nur gedacht hab, das war jetzt doch nicht gut genug und sowieso ein dummes Ziel, und dass ich direkt mehr schaffen und weiterkommen muss“, sagt Mia Morgan über das Lied, das auf einen The Cure-Bass aufgebaut ist und schockierend ehrlich die Balance zwischen Schein und Sein thematisiert. Moa, der im November eine neue EP veröffentlichen wird, hat in Imposter / Popstar die noch etwas bessere Strophe. Er sagt zu diesem Track: „Ich habe in jeglichen Situationen immer wieder Angst davor, entlarvt zu werden, dass ich eigentlich gar kein Musiker bin. Dass ich spontan auf eine Bühne muss und es nicht schaffe, einen eigenen Song zu performen, obwohl ich das bereits hunderte Male gemacht habe. Dass ich niemals genug mache für meine Musik und alle anderen die besseren Musiker*innen sind. Der Song ist für mich ein neuer Anker, der es schafft, mir mit einem Augenzwinkern selbst zuzugestehen, was ich kann.“
Dream Pop hätte man von Suuns nicht unbedingt erwartet, aber genau in dieses Genre ordnen Ben Shemie, Joseph Yarmush und Liam O’Neill ihre neue Single The Breaks (***) ein. Man kann das zumindest ein wenig nachvollziehen, denn der Song ist träge, schläfrig und auch etwas spinnert, aber trotzdem einnehmend. Es wirkt, als würde dem Avantgarde-Rock-Trio aus Montreal alles entgleiten, selbst die eigene Musik. The Breaks ist der Titelsong des sechsten Albums der Band, und soll durchaus typisch für den weiterentwickelten Sound von Suuns sein, der unter anderem durch Experimente mit Loops, Synthesizern, Samples und MIDI-Instrumenten geprägt ist. „The Breaks ist gewissermaßen das Gegenteil unseres letzten Albums. Nichts wurde wirklich zusammen gespielt. Wir befanden uns in einer Art Wurmloch, probierten neue Dinge aus und warfen verschiedene Ideen an die Wand“, erzählt die Band. Produziert und arrangiert hat dabei Liam O’Neill, der viele von Shemies und Yarmushs Ideen aus sporadischen Probensitzungen be- und überarbeitet hat, immer wieder neu, zwei Jahre lang. „Wir haben dieses Album zu einer Zeit aufgenommen, in der ich außer Musik nicht wirklich viel in meinem Leben hatte“, sagt O’Neill. „Manchmal kamen wir an einen Punkt, an dem wir nicht weiterwussten und nicht wussten, was wir tun sollten. Und ich habe mich einfach total darauf eingelassen. Lasst uns dies und das ausprobieren! Und einfach alles versuchen. Ich hatte viel Energie und war total begeistert davon.“ Wie gut das alles geklappt hat, klärt sich am 6. September, wenn die Platte erscheinen wird.
Auch Die Nerven sind bereits bei Album #6 angekommen. Es wird am 13. September herauskommen und, so der Pressetext, von der „Schande der Verschwendung und rücksichtslosen Vergiftung der Welt“ handeln. Einen besseren Titel als Wir waren hier hätten Kevin Kuhn, Julian Knoth und Max Rieger somit kaum für ihr Werk finden können. Schließlich zeugt auch dieser Spruch davon, dass man unbedingt einen Fußabdruck hinterlassen will, und sei er auch noch so dämlich oder schädlich. Egal, ob das ein Sticker auf dem Verkehrsschild ist, ein mit Kuli gekritzelter Spruch auf dem Tisch im Hörsaal oder ein Edding-Tag an der Klotür – man kann sicher sein, dass diese Hinterlassenschaft in jedem Fall nicht so klug, kraftvoll, einfallsreich (und giftig) sein wird wie die Single Als ich davon lief (****). Dass es nach dem Einzählen nicht direkt losgeht, sondern sich dieses „1, 2, 3, 4“ als Bluff erweist, ist die erste von vielen tollen Ideen, die zentrale Zeile „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit / ist mir kein Weg zu weit“ passt natürlich auch wunderbar in unsere Zeit. Entstanden ist die neue Platte in einer vierwöchigen Session in einem ehemaligen Restaurant in Stuttgart, der Heimat von Die Nerven. „Wir waren wieder alle gemeinsam in einem Raum, und plötzlich ging alles wieder wie von alleine. Es haben sich wie von selber Leitmotive gebildet, die alle Songs miteinander verbinden“, beschreibt die Band den Prozess hin zu Wir waren hier. „Es ist das erste Album, das wir machen, das sich nicht so anfühlt wie unser letztes Album. Und das ist gut so.“
Die Unterscheidung zwischen Album, EP und Single ist im Streaming-Zeitalter einigermaßen witzlos geworden. K.I.Z. haben das sehr genau verstanden. In der alten Zeitrechnung könnte man behaupten, Tarek, Nico und Maxim würden nun alle 15 Tracks vom nächste Woche erscheinenden Album Görlitzer Park als Single veröffentlichen. Was K.I.Z. stattdessen veranstalten, nennen sie „Album Countdown Visuals“: Jeden Tag gibt es ein neues Video zu einem neuen Song, die Clips greifen ineinander und ergeben am Ende ein kleines Theaterstück. Ein Beispiel ist 2001 (***1/2), das ruhig beginnt, dann auch etwas Härte beweist, allerdings nicht plump, sondern reflektiert. Das gilt auch für den Text, der einen großen Reiz und eine mindestens genauso große Kluft thematisiert. Das ist eine wunderbare Ergänzung der Album-Kampagne, die im vergangenen Jahr mit einer Pop-Up-Show auf dem Reeperbahn Festival begonnen hatte und pünktlich zum Release-Wochenende mit Headliner-Shows bei Hurricane- und Southside-Festival enden wird.
Wenn jemand in Aussicht stellt, auf der neuen Platte mehr von den eigenen Jazz-Einflüssen zu zeigen, dazu auch noch Elektro- und Ambient-Elemente, dann muss man vorsichtig sein und im schlimmsten Fall fieses Gefrickel befürchten. Joan As Police Woman hat genau diese Ankündigung für ihr neues Album Lemons, Limes & Orchids gemacht, das am 20. September erscheinen wird. Legt man die Single Long For Ruin (****) zugrunde, kann man indes aufatmen, denn das Lied zeigt mit viel Wärme und der anno 2024 sehr berechtigten Frage „Do we secretly long for ruin?“, was Jazz im besten Fall bedeuten kann: eine gelungene Kombination aus Musikalität und Intuition. „Wir scheinen es darauf anzulegen, uns selbst zu zerstören“, sagt sie zum Inhalt des Lieds. „Wir scheinen nicht bereit zu sein, Ressourcen zu teilen. Wir scheinen uns von uns selbst und damit auch voneinander abgewandt zu haben.“ Für den Entstehungsprozess ihres zehnten Studioalbums setzte die Amerikanerin vielleicht auch deshalb ganz bewusst auf Kollaboration. Unter anderem haben Bassistin Meshell Ndegeocello, Gitarrist Chris Bruce (Seal, Trevor Horn, Alanis Morisette), Keyboarder Daniel Mintseris (St. Vincent, David Byrne, Elvis Costello & The Imposters) sowie die Schlagzeuger Parker Kindred (Jeff Buckley, Liam Gallagher) und Otto Hauser auf den zwölf Songs mitgewirkt. „Ich war bereit, ein Album aufzunehmen, das meine Stimme wirklich zur Geltung bringt“, erzählt Joan, die mittlerweile auch als Keyboarderin und Backgroundsängerin in der Liveband von Iggy Pop spielt. „Die Basics wurden wie früher aufgenommen – ich habe live mit der Band gesungen. Meine gute Freundin sagte mir, dies sei das sexieste Album, das ich je gemacht habe. Ehrlich gesagt: Ich glaube, sie hat recht.“
