Andre Jegodka Kommst du mit in den Alltag?

Andre Jegodka – „Kommst du mit in den Alltag?“

Autor*in Andre Jegodka

Andre Jegodka Kommst du mit in den Alltag Review Kritik
Andre Jegodka blickt auf die Lebenswelten von Musiker*innen.
Titel Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen
Verlag Ventil
Erscheinungsjahr 2024
Bewertung Foto oben (DALL-E Generator): Eigentlich Songwriterin, aber mit Job in der Gastro – das ist immer noch gängig.

Wie das Leben von Musiker*innen aussieht, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, im Tourbus sitzen, Fernsehinterviews geben oder im Tonstudio arbeiten, konnte man vor rund 25 Jahren bei MTV Cribs sehen. Verschiedene Acts führten in dieser Sendung durch ihr Zuhause. Es wimmelte meist vor Swimmingpools, Billardtischen, neuster Unterhaltungselektronik und protzigen Autos in der Garage. Die Botschaft war klar: Ich bin ein Star, ich habe es geschafft, ich lebe in Saus und Braus.

Diese Botschaft war natürlich zugleich eine Erneuerung des Mythos von „Sex and drugs and Rock’N’Roll“, ebenso wie eine Erneuerung des Aufstiegsversprechens, das zu diesem Mythos gehört: Wenn du Hits hast, wenn du es auf die ganz großen Bühnen schaffst, dann hast du ausgesorgt. Besonders wirkungsvoll war das damals, weil bei MTV Cribs auch Leute durch ihre spektakulären Hollywood-Villen führten, die einem nicht unbedingt als Erste eingefallen wären, wenn man „superreiche Rockstars“ hätte aufzählen sollen, und deren kommerzieller Erfolg tatsächlich eher moderat war. Jacoby Shaddix war da beispielsweise zu sehen, der es als Sänger von Papa Roach auf drei Top-10-Alben in den USA gebracht hat. Diese Bilanz haben auch die Rapper Chingy und Fat Joe vorzuweisen, die ebenfalls Protagonisten der Home-Story-Show waren. Bei Ryan Key, Frontmann von Yellowcard, reichte gar ein einziges Top-5-Album.

Dieser Vergleich ist wichtig zum Verständnis dessen, was Andre Jegodka (Jahrgang 1982) in diesem Buch als Alltag von Musiker*innen vorstellt. Zwar blickt der Autor, der als Konzertveranstalter und Projektmanager in Berlin arbeitet, bewusst eher auf Indie-Acts als auf ganz große Namen. Aber zu den Menschen, die in Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen zu Wort kommen, gehören immerhin Leute wie Frank Spilker (Frontmann von Die Sterne, die zehn Alben in die deutschen Charts gebracht haben), Rick McPhail (seit 2004 Keyboarder bei Tocotronic, die sieben Alben in den Top3 vorweisen können) oder Peter Hein, der mit Fehlfarben sogar eine Goldene Schallplatte erhalten hat.

Auch Leuten wie Drangsal, der etwa im Vorprogramm von Kraftklub zu sehen war, oder Daniela Reis, die mit Schnipo Schranke 2014 auf Platz 1 der Single-Jahrescharts von Intro landete, kann man einige Prominenz attestieren. Dazu kommen Künstler wie Carsten Friedrichs, der mit Superpunk und Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen seit fast 30 Jahren im Geschäft ist und dem man damit wohl ebenfalls guten Gewissens die Berufsbezeichnung „Musiker“ verpassen darf. Die Quintessenz der 15 Interviews in diesem Buch lautet allerdings: Fast niemand von ihnen kann tatsächlich von der Musik leben, und ein Lifestyle à la MTV Cribs ist für sie alle in weiter Ferne.

Jegodka spricht damit ein wichtiges Thema an und schafft es in den Gesprächen, die teils auch von oder gemeinsam mit anderen Personen geführt werden, sehr eindrucksvoll, der Fantasie von Ruhm und Reichtum, die viele noch immer mit einer Musikkarriere verbinden, eine ziemlich nüchterne Realität gegenüberzustellen: Es geht um Nebenjobs in der Gastronomie, um erniedrigende Besuche beim Arbeitsamt, um das Zurückziehen zu den Eltern während der Corona-Zeit oder die verschiedenen Taktiken, sich ein paar Fördergelder für das nächste Projekt zu sichern. Es ist klar: Die Leute, die im Publikum stehen und die vermeintlichen Stars auf der Bühne anhimmeln, sind materiell oft viel besser abgesichert. Im Zweifel könnten sich viele Fans einen deutlich glamouröseren Lebensstil leisten als viele der prekär tätigen Künstler*innen. Das ist eine Diagnose, die natürlich kein bisschen zur Märchenwelt von MTV Cribs passt.

Eine Stärke von Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen (der Buchtitel ist einem Song von Michael Girke entnommen, der hier ebenfalls interviewt wird) ist auch, dass im Verlauf der Gespräche systemische Defizite sehr deutlich werden. Dazu gehören die mickrigen Beträge, die Spotify für Streams an Künstler*innen überweist, ebenso wie das geringe Interesse an Konzertbesuchen kleinerer und mittlerer Acts, das sich auch nach dem Ende der Pandemie nicht wieder erholt hat. Jegodka spricht immer wieder den Trend zu Quantifizierung und Mathematisierung von künstlerischem Schaffen an, seien es Abrufzahlen bei Spotify, Abos bei YouTube oder Reichweiten in Social Media. Er verweist auf ein Klassenproblem, wenn man mit halbwegs vorzeigbaren Erfolgen von seiner Musik nicht mehr leben kann und Pop so zu einer Spielwiese von Leuten zu werden droht, die es sich leisten können.

Hoch interessant ist die hier immer wieder dargestellte Ungleichbehandlung von E- und U-Musik in der Kulturpolitik. Bezeichnenderweise weichen etliche der hier vorgestellten Künstler*innen immer wieder auf gut bezahlte Jobs für Theater, Bühne, Tanz und Film aus, weil es dort üppige Subventionen gibt, ohne dass jemand den Nachweis eines Publikumserfolgs erbringen muss. Zugleich wird überaus deutlich, wie (im Wortsinne) existenziell wichtig die Wirkung von Förderprogrammen wie dem Musicboard Berlin oder der Initiative Musik ist, um überhaupt eine finanzielle Vergütung von kreativer Pop-Arbeit möglich zu machen. Frappierend ist die große Einhelligkeit in der Verdammung von Social Media. Fast alle Künstler*innen geben hier zu Protokoll, dass die Pflege entsprechender Profile bloß Zeit fresse und Druck erzeuge, sinbildlich wird dafür einmal der Begriff „das Monster füttern“ gebraucht.

Besonders lobenswert ist, dass neben der finanziellen Ebene immer wieder auch auf damit verknüpfte Aspekte von Alter und Gender geschaut wird. Gibt es mittlerweile gleiche Karrierechancen für Musikerinnen? Wie lassen sich Elternschaft und das Leben auf Tour vereinen? Wann ist man zu alt, um noch an den großen Durchbruch zu glauben? Wie passt man als Musiker*in in ein soziales Umfeld, in dem die meisten Menschen einem regulären Vollzeitjob nachgehen? Auf solche Fragen gibt es immer wieder sehr interessante Einblicke. Das beste Gespräch im Buch vereint all diese Facetten, es wird geführt von der Musikerin Albertine Sarges mit Paul Pötsch (Trümmer) und Christiane Rösinger (Lassie Singers, Britta).

Es ist auch deshalb das Highlight des Buchs, weil Jegodka hier nicht auftritt. Seine Rolle als Interviewer ist nämlich manchmal schwierig. Er geht nicht neutral in diese Gespräche, sondern mit einer Agenda. Ein strenges Indie-Ethos wird als gesetzt betrachtet. Für den Autor und für fast alle, mit denen er spricht, ist eine klassische Mainstream-Karriere eigentlich von Anfang an „Igitt“ – kommerzieller Erfolg darf vielleicht zufällig passieren, aber auf keinen Fall angestrebt werden.

Zudem wird vor allem vom Autor selbst einer vermeintlich goldenen Zeit mit lebendigen DIY-Strukturen nachgetrauert, in der es weder Ärger mit dem Jobcenter gab noch Gentrifizierung oder dieses böse Internet. Auf etliche (entsprechend suggestive) Fragen will Jegodka offensichtlich am liebsten die Antwort hören: „Früher war alles besser.“ Beispielsweise fragt er an einer Stelle nach einer Zeit, in der „Labels noch in anderen Strukturen gearbeitet haben“ oder möchte wissen: „Wie seht ihr die Entwicklung, dass vielleicht die Musik nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern dass es nur noch um irgendwelche nackten Zahlen geht?“

Das ist der erste große Widerspruch, der die Lektüre etwas unerfreulich macht: Der Gedanke, man könne alleine von Leidenschaft für die eigene Kunst, der Unterstützung einer begeisterten Kreativszene und der Faszination der eigenen Fans leben, ist naiv – und war es auch schon immer. Natürlich gab und gibt es Liebhaberprojekte und Mäzenatentum. Es gab und gibt auch Akteur*innen im Musikgeschäft, die deutlich mehr auf Profit orientiert sind als andere. Aber innerhalb kapitalistischer Marktstrukturen, in denen man sich nun einmal bewegt, wenn man mit der eigenen Musik ein Publikum sucht, galt und gilt seit locker 70 Jahren: Auch Indie-Labels und Alternative-Acts müssen irgendwie wenigstens eine schwarze Null schaffen, um überleben zu können. Jegodka hingegen scheint von so etwas wie einem natürlichen Rechtsanspruch solcher Musik auf ein Existenz-sicherndes Auskommen auszugehen. Eine solche Garantie gibt es allerdings nicht – und es wird im Buch leider auch kein Modell entworfen, welche Strukturen (zum Beispiel über Genossenschaften oder ein bedingungsloses Grundeinkommen) dafür notwendig wären.

Der zweite große Widerspruch von Kommst du mit in den Alltag? lässt sich zwischen dem Lamento des Autors und den Aussagen der befragten Künstler*innen erkennen und ist eng mit der oben benannten Anspruchshaltung verknüpft. Während Jegodka es offensichtlich empörend bis skandalös findet, dass talentierte und ehrgeizige Musiker*innen parallel noch gezwungen sind, „Brotjobs“ anzunehmen, haben diese selbst meist kein allzu großes Problem mit dieser Situation, weil sie nicht nur um die finanziellen Schwierigkeiten wissen, die ihr Lebensentwurf mit sich bringt, sondern auch um die daraus resultierenden Vorzüge. Jana Sotzko (Point No Point, Halfsilks) bringt das an einer Stelle auf den Punkt: „Ich sehe es als großes Privileg, etwas machen zu können, das mir nach wie vor sehr viel Spaß macht. Mich hat keiner dazu gezwungen.“

Sie und ihre Kolleg*innen scheinen zu wissen: Das Leben als Künstler*in ist eine Entscheidung, sich außerhalb der Nine-to-Five-Gesellschaft zu positionieren und auch historisch eben oft mit entsprechend prekären Verhältnissen verbunden gewesen. Zum Entschluss, das Ausleben der eigenen Kreativität in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen, gehören Risikobereitschaft, Egoismus und durchaus auch Eitelkeit. Der Preis dafür ist der Verzicht auf materielle Sicherheit, die im Zweifel dann doch die Mainstream-Gesellschaft gewährleisten soll.

Das dritte Manko sind ein paar handwerkliche Schwächen. Die Sprache von Jegodka, der zwischen den Interviews kurze „Pop Fact“-Kapitel mit eigenen Betrachtungen einbaut, ist oft ziemlich gestelzt. Die Auswahl der zu Wort kommenden Musiker*innen wird nicht begründet, viele davon sind offensichtlich einfach Buddys des Autors, was die Gefahr von Blase und Bias erzeugt. Auch das für das Thema so zentrale Wort „Karriere“ oder die Frage, ab wann eigentlich die Schwelle von Hobby zu Profi überschritten ist, werden an keiner Stelle richtig definiert. Menschen, die einen Plattenvertrag haben, auf von Agenturen organisierte Tourneen gehen und bei großen Festivals auftreten, streiten hier ab, eine Karriere zu haben – und kommen damit durch.

Zu oft schweifen die Themen auch ab von der eigentlichen Kernfrage, nämlich der finanziellen Situation von Alternative-Musiker*innen. Dann geht es um die Subkulturen in bestimmten Städten zu bestimmten Zeiten oder um das eigene kreative Selbstverständnis. Stattdessen hätte man sich ein paar mehr Zahlen gewünscht, die bei diesem Sujet natürlich elementar sind. Wenn Jegodka solche liefert, wird es nämlich sofort enorm erhellend. Einmal zitiert er aus einer Erhebung, wonach Regengeräusche, die jemand als Einschlafhilfe auf Spotify hochgeladen hat, dort mehr Erträge bringen als die Songs von Peter Maffay und Jennifer Rostock zusammengenommen. An anderer Stelle zeigt er auf, dass in der Künstlersozialkasse im vergangenen Jahr insgesamt rund 8700 Menschen als Berufstätige in der Sparte „Unterhaltungsmusik“ versichert waren. Ihr durchschnittliches Jahres-Bruttoeinkommen betrug 17.083 Euro. Bei einer angenommenen 39-Stunden-Woche ist das ein Stundenlohn von 9,52 Euro. Hier noch mehr Substanz zu liefern, beispielsweise mit Fragebögen, in denen die interviewten Acts ihre besten / schlechtesten Gagen, ihre Verdienste am letzten Album oder ihre monatlichen Spotify-Einnahmen transparent machen, wäre sehr wertvoll gewesen – wenn man denn schon über Geld reden oder einen unterstellten Abwärtstrend belegen will.

An der Indie-immanenten Unvereinbarkeit von „Wir wollen nicht Kommerz sein“ und „Wir müssen auch etwas essen und Miete zahlen“ krankt Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen durchweg, verstärkt wird dieser Effekt durch die Reibung zwischen „Wir bemessen unseren Wert in ganz anderen Maßstäben“ mit der unausgesprochenen Forderung von „Wir brauchen mehr Geld.“ Zugleich wird Jegodkas Buch aber auch zu einer Feier genau der Freiheiten, die eine solche Existenz bei allen finanziellen Einschränkungen mit sich bringt. Ganz viele der interviewten Musiker*innen betonen diesen Wert der Autonomie, den persönlichen Tagesablauf ebenso frei zu gestalten wie das berufliche Umfeld – und natürlich das eigene kreative Schaffen. „Ich wollte nie von der Musik leben müssen, weil mir Musik zu wichtig ist, um sie als Karriere zu betrachten“, sagt Katharina Kollmann (Lake Felix, Nichtseattle) an einer Stelle und verdeutlicht damit: Wenn bei MTV Cribs der Glamour des Daseins als Musiker*in in Swimmingpools und Protzkarren besteht, dann liegt er hier in der maximalen eigenen Unabhängigkeit.

Das beste Zitat kommt von Paul Pötsch (Trümmer): „Diese ganze Indiewelt, das ist mittlerweile auch nur noch ein Anhängsel dieser kapitalistischen Logik.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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