Sleater-Kinney Little Rope

Futter für die Ohren mit Sleater-Kinney, The Mountain Goats, Selig, Torres und Nura

Aus der totalen Ausgelassenheit in die absolute Schockstarre: Das ist die Erfahrung der Hauptdarstellerin im Video zu Hell (****). Die wunderbare Miranda July spielt diese Rolle, und sie visualisiert damit, was Carrie Brownstein im Herbst 2022 erleben musste. Während sie es sich zuhause in Portland gut gehen ließ, kamen ihre Mutter und ihr Stiefvater bei einem Unfall in Italien ums Leben. Die Nachricht erhielt sie von ihrer Bandkollegin Corin Tucker, die von den Behörden informiert worden war, weil Brownstein sie als Notfallkontakt hinterlegt hatte und selbst nicht zu erreichen war. Man kann sich vorstellen, wie schwierig so eine Nachricht zu überbringen ist, auch wenn man – wie im Falle von Sleater-Kinney – seit fast 30 Jahren gemeinsam in einer Band spielt. Man kann sich auch vorstellen, wie sehr so eine Erfahrung zusammenschweißt und prägt. Dass Trauer nun auf Little Rope, dem elften Studioalbum von Sleater-Kinney, ein wichtiges Thema sein wird, ist somit kein Wunder. Hell zeigt als Leadsingle aber, wie kraftvoll und direkt das Duo damit umgeht. „Hell don’t have no worries / hell don’t have no past / hell is just a signpost when you take a certain path“, heißen die ersten Zeilen, begleitet von anfangs fast schmerzhaft reduzierten Gitarrenakkorden. Nach und nach wird der Song dann immer wuchtiger, bis er nach dem zweiten Refrain richtig heavy ist und sich trotzig dem Instinkt zu Zusammenbruch, Heulkrampf oder Apathie entgegenzustemmen scheint. Aufgenommen wurden die zehn Songs mit dem Grammy-prämierten Produzenten John Congleton, das Album kommt am 19. Januar 2024 heraus.

Dass man im Rap gerne stolz ist auf kommerziellen Erfolg, ist nicht neu. Nura wird sicher auch deshalb sehr zufrieden sein mit der Performance des Hits Eine gute Frau. In ihrer neuen Single Bella (***1/2) vom morgen erscheinenden Album Periodt macht sie das auch deutlich: Die Titelheldin ist eine umwerfende, wunderschöne Frau, die Männer nicht nur um den Finger wickelt, sondern ihnen vor allem auch das Geld aus der Tasche zieht. Dass sie zwar platinblond und knapp bekleidet ist, aber trotzdem extrem smart, ist für Nura natürlich ein weiterer Grund, diese Femme Fatale zu feiern. Dazu gibt es eine Dancehall-Basis und ein paar Spielereien wie mit der Referenz auf France Gall. Das ist Empowerment mit hohem Spaßfaktor, und deshalb fast so schön wie Bella.

Es gibt viele Fälle, in denen man sich beim neuen Album einer Band sowohl auf Vertrautheit freut (erst recht in einem Fall wie bei The Mountain Goats, die schließlich schon seit 1991 bestehen) und zugleich auf ein paar Überraschungen hofft. Bei John Darnielle, Peter Hughes, Matt Douglas und Jon Wurster kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, der die Vorfreude steigert: Sie lassen Figuren in ihren Songs auftauchen, die ihre gesamte Karriere durchwandern. Eine davon ist Jenny, die sie zuerst in All Hail West Texas (2001) besungen hatten. Sie spielte dann auch in Straight Six eine entscheidende Rolle, bis sie mehr als zehn Jahre später in Night Light (2012) wieder auftauchte. Nun ist ihr ein ganzes Album gewidmet, das von Trina Shoemaker produzierte Jenny From Thebes wird am 27. Oktober erscheinen. Den Albumtitel hat die Band gewählt, weil Jenny jemand ist, der auch in ein antikes Drama gepasst hätte: Sie erlebt immer wieder Katastrophen oder steht kurz vor einer neuen Tragödie, kann sich aber nie erklären, wieso ihr all dies zustößt. „Diese Dinge geschehen nie isoliert“, meint Darnielle. „Ein schlimmes Ereignis führt zu einem anderen schlimmen Ereignis und ist der Grund dafür.“ Erster Vorbote für das neue Album ist die Single Murder At The 18th St. Garage (***1/2), die der darin enthaltenen Refrainzeile „Older, but wiser“ alle Ehre macht. Man merkt hier die handwerkliche Klasse und auch, wie tief The Mountain Goats ihr Genre durchdrungen haben, zugleich hat der Track erstaunlich viel Tempo und eine erfreuliche Frische. „Anstatt mich zurückhaltend zu geben, sage ich lieber gleich, dass in diesem Song jemand getötet wird, was bestenfalls eine kurzfristige Lösung für Jennys Probleme ist, wobei ich nicht behaupte, dass sie selbst etwas getan hat. Es steht jetzt ihr Wort gegen seines, und er kann nicht mehr reden, und sie ist längst verschwunden, als die Rettungssanitäter in der 18th Street eintreffen. Unter Eid werde ich aussagen, dass sie bei mir war, denn ich bin bei ihr“, sagt John Darnielle dazu. „Schnüren Sie Ihre Tanzstiefel, aber legen Sie Einlagen ein, denn dieser Song ist ein Sprint!“

„Did I hit a nerve?“, fragt Mackenzie Scott alias Torres in ihrer neuen Single Collect (****). Zumindest für ihr letztes Album Thirstier (2021) kann man das eindeutig bejahen. Die Platte bekam viel Lob und (in Schottland) gab es sogar einen Chart-Einstieg für die Künstlerin aus New York. Der Nachfolger wird What An Enormous Room heißen und am 26. Januar 2024 erscheinen. Die erste Single ist energisch und selbstbewusst, ohne angeberisch oder plump zu werden. Die Kraft des Lieds („I know what you expect / you expect to be first / you claim what you didn’t earn / is that what you deserve?“, lauten die ersten Zeilen) speist sich dabei aus aufgestauter Frustration, die sich fast in so etwas wie Rache entlädt. „In diesem Song geht es darum, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Es ist der Wut-Song, den ich schon seit Jahren schreiben wollte“, sagt Torres. Für die zehn Songs des sechsten Studioalbums darf man sich also wahrscheinlich wieder auf das freuen, was Julien Baker im Begleittext zur neuen Platte so treffend beschreibt: „Wenn die Musik von Torres schräg, geistreich, witzig, aufmüpfig wird, provoziert, absichtlich skandalisiert, das Krasse einsetzt, um das Strenge zu untergraben, um hochtrabende philosophische Wahrheiten wirbt – dann geschieht das alles mit der Überzeugung einer Künstlerin, die den (wesentlichen) Glauben an den Wert ihrer Aufgabe hat.“

Bereits bei Album #8 sind Selig angelangt. Das 30-jährige Bestehen feiert das Quintett aus Hamburg mit einer umfangreichen Tour, und zwar in Originalbesetzung. Dieser Hinweis gebietet sich bei einer Band, die immer mal wieder Querelen und Krisen zu durchleben hatte. Nicht umsonst gab es 1998 den Split und erst zehn Jahre später die Wiedervereinigung. Die heute erscheinende Single Neuanfang (***) thematisiert dann auch nichts anderes als die eigene Geschichte als Band und die Freude darüber, immer noch zusammen zu sein. Selig haben erkannt, „dass das, was man da gemeinsam auf die Bühne bringt, von einem größeren Wert ist als alles, was einen vielleicht manchmal mit dem ganzen Projekt hadern lässt, dann kann man ewig weitermachen. Denn man spürt, dass da live etwas entsteht, das man so mit keiner anderen Formation jemals hinbekommen wird“, sagen sie zu den bevorstehenden Konzerten. Dass Neuanfang dabei nicht wild entschlossen und ungestüm klingt, sondern souverän und besonnen, darf man vielleicht als Indiz dafür werten, dass die Harmonie bei Selig noch eine ganze Weile halten wird.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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