Hingehört: Ballet School – „The Dew Lasts An Hour“

Künstler Ballet School

Wie eine Zeitkapsel aus dem Jahr 1984 wirkt das Debüt von Ballet School.
Wie eine Zeitkapsel aus dem Jahr 1984 wirkt das Debüt von Ballet School.
Album The Dew Lasts An Hour
Label Bella Union
Erscheinungsjahr 2014
Bewertung

Was alle amerikanischen Wissenschaftler, deutschen Ingenieure und koreanischen Geheimlabors zusammen noch nicht geschafft haben, ist in der Musik schon längst kein Problem mehr: die Zeitreise. The Dew Lasts An Hour, das Debütalbum von Ballet School, klingt, als sei es ziemlich genau im Jahr 1984 in eine Zeitkapsel eingeschlossen und erst jetzt, 30 Jahre später, geöffnet worden.

Dass am Beginn der Geschichte dieses Trios eine gemeinsame Vorliebe für die Cocteau Twins stand, ist nicht nur sehr glaubwürdig, sondern erscheint geradezu zwangsläufig. Über dieses schottische Trio schwärmten Sängerin Rosie Blair (ursprünglich aus Nordirland) und Gitarrist Michel Jun Collet (ursprünglich aus Brasilien, mit Vorfahren aus Japan, China und Frankreich), als sie sich 2011 in der U-Bahn ihrer Wahlheimat Berlin begegneten. “We both immediately knew we had to be in a band together”, umschreibt Blair diese Initialzündung.

Der Bandname war ebenfalls recht schnell gefunden (“I wanted a name that was soft and gentle, which is way cooler than tough. The central concept of the band is grace, just because I think it to be the highest physical and emotional attribute”, erklärt Rosie Blair die Idee dahinter). Bis Schlagzeuger Louis McGuire (ein ebenfalls in Berlin gestrandeter Brite) dann Ballet School komplettierte, dauerte es zwar ein bisschen, erste Lorbeeren gab es aber prompt. Das Liebeskummer-Lied All Things Return At Night beispielsweise gefiel Simon Raymonde so gut, dass er Ballet School für seine Plattenfirma Bella Union unter Vertrag nahm. Die Band dürfte mehr als glücklich darüber gewesen sein, schließlich war ihr neuer Boss früher einmal der Bassist bei den  Cocteau Twins.

Es folgte die EP Boys Again, von der fünf Lieder, jeweils in neuen Versionen, nun auch auf The Dew Lasts An Hour zu finden sind: Heartbeat Overdrive ist der zackigste Track des Albums, mit einer The-Cure-Gitarre und einem Refrain, der sich – auch dies ein dezent genutztes Mittel bei Ballet School – so etwas wie echte Euphorie erlaubt. Ghost lässt an die Go-Gos denken und zeigt alle Möglichkeiten der Stimme von Rosie Blair, und das sind fürwahr nicht wenige. Yaoi macht deutlich, dass dieses Trio auch Aggressivität kennt. All Things Return At Night ist ein besseres Bangles-Lied als viele echte Bangles-Lieder und der Rausschmeißer Crush unterstreicht, dass Klangspielereien und Zeitreisen immer am besten funktionieren, wenn man einen guten Song als Fundament dafür hat. Das Lied ist eine tolle Ballade – und wäre das auch in jedem anderen Zeitalter gewesen.

Auch die sieben neuen Songs überzeugen mit einem Mix aus Gesangsakrobatik (Blair ist bekennender Fan von Whitney Houston und Mariah Carey) und einem feinen Gespür für Atmosphäre. Gray ist ein Beispiel dafür, der Opener Slow Dream klingt, als würden Ballet School tatsächlich erst entdecken und erkunden, ob man mit synthetischen Mitteln stimmige, eindrucksvolle, schillernde Klangemälde entwerfen kann; als sei das in den Achtzigern nicht von unzähligen Acts in aller Ausführlichkeit bewiesen worden.

Pale Saint zeigt die nie ganz zu leugnende Melancholie, die auf The Dew Lasts An Hour auch unter der strahlendsten Melodie und dem kräftigsten Schlagzeug erkennbar bleibt. Lux ist ein halber Discohit aus dem Jahr 1984, der seitdem allerdings von einem Geist heimgesucht wird. In Cherish ergibt das wuchtige Schlagzeug eine reizvolle Kombination mit dem leichtfüßigen, schwebenden Refrain.

Dass Ballet School es schaffen, das Plakative mit dem Geheimnisvollen, das Glamouröse mit dem Authentischen zu verbinden, ist natürlich kein Zufall, sondern gewollt. “We’re not a synth band, we’re a guitar band, but one that’s trying to push the boundaries of the traditional set up,” sagt Sängerin Rosie Blair und führt dann weiter aus: “We write pop songs. I never thought pop music was a lower form of art. We actively try to play with the model of mainstream pop against what indie is supposed to be and find our own new form. And though I love laptop pop, it’s vital that people witness our energy, that punk lust, when we play live. I feel like I crawled through fire to get to this point, so audiences have to experience that too.”

Es ist diese Entschlossenheit, die The Dew Lasts An Hour über vergleichbare Eighties-Nostalgie-Alben heraushebt. Ballet School wollen nicht nur der Musik dieser Ära nachspüren, sie müssen. Ihr Debütalbum beeindruckt vor allem durch die Leidenschaft und Detailversessenheit, mit der hier die ästhetischen Koordinaten von vor 30 Jahren neu vermessen werden.

Das Video zu All Things Return At Night sieht, Überraschung, auch nicht nach 2014 aus.

Homepage von Ballet School.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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