In Konzertkritiken über Auftritte von Kettcar steht Lars Wiebusch wahrscheinlich eher selten im Mittelpunkt. Heute soll das anders sein. Denn der Keyboarder ist nichts weniger als eine zentrale Figur für das Verständnis dieser Band und des beglückenden Gefühls, das man während dieser Show im Haus Auensee erleben kann.
Die Band kommt in Leipzig von rechts auf die Bühne, und weil sein Instrument ganz links steht und er somit den weitesten Weg hat, geht Lars Wiebusch als Erster durch die Tür. Im Gegenlicht der Scheinwerfer sind in diesem Moment zunächst nur die Silhouetten der Musiker zu erkennen, und das Erste, was man bei dieser Show von Kettcar sieht, ist somit: eine ziemlich beeindruckende Plauze. Sie gehört zu Lars Wiebusch, und die Menschen hinter mir kichern bei diesem Anblick tatsächlich und thematisieren kurz diesen stattlichen Bauchumfang. Das ist in Zeiten, in denen man das Konzept „Bodyshaming“ kennen sollte, zwar seltsam. Aber es ist auch bezeichnend. Denn schließlich sieht man ja wirklich selten nicht schlanke Menschen in Rockbands – selbst dann, wenn die Mitglieder „bereits das 38. Lebensjahr hinter sich haben“, wie Sänger Marcus Wiebusch (55) in einer Ansage witzelt. Es ist eine Abweichung, und die findet man dann immer wieder an diesem Abend in Leipzig, wie ein Muster.
Hier stehen fünf Männer auf der Bühne, die man nicht unbedingt dort erwarten würde. Sie sind denkbar weit weg vom „Sex & Drugs & Rock & Roll“-Gestus, sie bieten kein Spektakel, sie wirken nicht einmal eitel. Und es sind gut 1200 Menschen im Publikum, die ganz offensichtlich ebenfalls einen anderen Lebensinhalt haben, als an Mittwochabenden laute Musik zu hören und es dabei ein bisschen krachen zu lassen. Diese Fans verkörpert Lars Wiebusch wunderbar, genauso wie die Entschlossenheit, hier und jetzt eine Ausnahme zu machen. Er trägt ein schwarzes Poloshirt, er gönnt sich zur Zugabe das erste Bühnenbier, er tanzt, er schnipst mit den Fingern, er steuert das herrlich brüchige „Ahh“ in Balu bei, er ballt begeistert eine Powerballaden-Faust, während die andere Hand die Tasten spielt, er braucht zwischendurch ein Handtuch, weil er manchmal in den besonders mitreißenden Passagen auch eskaliert, immer mit einem kleinen Rest von Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee ist. Ganz oft lehnt er sich über seinem Instrument so weit nach vorne Richtung Bühnenrand, dass man glauben könnte, er würde gerne Teil des Publikums werden.
Er ist damit der Prototyp der Menschen im Saal. Die sind zwar wohl eher keine Paketzusteller und Krankenpflegerinnen (wie sie in Doug & Florence vom neuen Album besungen werden), aber eben selbst auch ein gutes Stück von „Sex & Drugs & Rock & Roll“ entfernt, ebenso wie von Hedonismus, Glamour und Sturm & Drang. Kettcar zeigen an diesem Abend wieder einmal, dass man all dies auch gar nicht für ein tolles Rockkonzert braucht, wenn man stattdessen Zusammenhalt, Zuversicht und Einverständnis zu bieten hat. „Es ist doch nur Musik“, sagt Bassist Reimer Bustorff gegen Ende der Show ironisch, als die Stimmung besonders euphorisch wird. Aber selbstverständlich wissen diese fünf Hamburger, wie viel Wirkung diese Kunst entfalten und was man alles mit ihr erreichen kann.
Der Opener Auch für mich die 6. Stunde erweist sich live noch mehr als Kraftpaket, nach dem folgenden Benzin und Kartoffelchips stellt Marcus Wiebusch bereits fest: „Das wird ein guter Abend, das weiß ich jetzt schon.“ Bei Balkon gegenüber singen die Fans die erste Strophe allein, Notiz an mich selbst (Marcus Wiebusch: „Ein Lied, das keiner kennt“) wird zum Highlight, Der Tag wird kommen sorgt für Gänsehaut und bei Landungsbrücken flippen selbst die Leute noch einmal aus, die sich zwischendurch weiter hinten auf den Boden gesetzt haben.
Die typische Bewegung an diesem Abend in Leipzig ist Kopfnicken, und das hat nicht nur darin seinen Grund, dass vor allem viele Songs auf Gute Laune ungerecht verteilt bei genauerer Betrachtung einen Hip-Hop-Beat (und oft auch Sprechgesang) haben. Es ist auch ein Zeichen der Bestätigung: Ja, das stimmt. Ja, ich sehe das auch so. Ja, das ist gut und richtig. Ja, es fühlt sich wunderbar an, hier dabei zu sein. „98 Prozent hier haben dieselbe politische Meinung“, sagt Marcus Wiebusch an einer Stelle, und das trifft höchstwahrscheinlich recht präzise auf die Fans im Haus Auensee zu. So viel Übereinstimmung könnte sich wie Konformität anfühlen, langweilig und erdrückend. Aber die Band ist klug, offen und selbstironisch genug, um diesen Eindruck nie aufkommen zu lassen.
„Denkt nicht, dass jeder Abend so geil ist“, meint Marcus Wiebusch zwischendurch, und auch das passt wunderbar zu Kettcar, zu ihrem Publikum und zu seinem Bruder: Das Besondere ist nur möglich, weil es das Normale gibt.