Künstler*in | Marius | |
EP | Alles Neu | |
Label | Marius | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Es gibt bestimmt Menschen da draußen, die sich auf die Rückkehr von Heisskalt gefreut haben. Die 2010 in Schwaben gegründete Band hatte nach dem dritten Album Idylle (2018) eine längere Pause angekündigt. Für den Sommer 2020 war dann eigentlich das Comeback mit mehreren Festivalshows geplant. Doch als Corona sowohl die Festivalsaison als auch den Livemusik-Betrieb insgesamt in die Knie zwang, wurde daraus nichts. Heisskalt standen ohne Gigs da, zudem ohne Plattenfirma. Die Pause wurde verlängert, diesmal zwangsweise.
“Ich hab an dem Tag, als wir das entschieden haben, definitiv ein paar Tränen vergossen”, sagt Marius Bornmann. Er ist ganz eindeutig einer der Menschen, die dieser Rückkehr entgegen gefiebert haben, schließlich ist er der Schlagzeuger bei Heisskalt. “Aber ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Und dann hat sich bei mir ein Schalter umgelegt, den ich vorher nie umgelegt bekommen habe”, sagt er. Dieses Erweckungserlebnis führte ihn schnurstracks in den Proberaum, wo er in den nächsten Wochen 30 eigene Songs schrieb. Vier davon hat er nun mit Daniel Strohhäcker (besser bekannt als Äh, Dings oder auch als Future Franz) aufgenommen. Die EP Alles neu wird heute nur digital veröffentlicht.
Solo-Projekt als Zeitvertreib während der Pandemie – das mag unspektakulär klingen. Für den Stuttgarter ist es aber nichts weniger als ein Paradigmenwechsel. Schließlich hatten Heisskalt ein Jahrzehnt lang sein Leben bestimmt, quasi sein gesamtes Dasein als Erwachsener. Das war nicht nur ein Job und eine Möglichkeit, sich kreativ zu betätigen, sondern ein Lebensmittelpunkt, der die gesamte Identität von Marius Bornmann geprägt hat.
“Wir haben jedes Jahr zig Konzerte gespielt, durften auf den größten Festivals des Landes gastieren und haben Dinge erlebt, die ich kaum so schnell verarbeitet bekommen habe. Dafür bin ich dankbar und denke immer froh dran zurück”, sagt er. “Jahrelang habe ich aber auch nichts anderes gemacht und war auch nichts anderes als der Schlagzeuger von Heisskalt. (…) Mein Freundeskreis bestand aus der Band und der Crew und es gab auch keine anderen Themen mehr. (…) Ich habe mich da lange reinfallen lassen, aber irgendwann gemerkt, dass ich gar nicht mehr wusste, wer ich selbst war. Mich gab’s nur im Kollektiv”, hat er erkannt. Die Bandpause und die Pandemiezeit nutzte er also auch, um sich jenseits dieser Routinen neu zu finden. “Ohne Grenzen, ohne Erwartungshaltungen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb meine Solo-Sachen musikalisch in das komplette Gegenteil von Heisskalt umgeschlagen sind. Nach vielen Jahren schwarzweiß, traurig und schwer wollte ich bunt, locker und aus dem Bauch heraus”, beschreibt er das Ergebnis.
Das ist nicht übertrieben. Wo andere Soloprojekte zwar behaupten, sie unterschieden sich erheblich vom Output der Band, dann aber doch allenfalls eine leichte Variation davon bieten, gibt es auf Alles neu tatsächlich die im Titel der EP versprochene radikale Wende. Keine Härte, kein Rock, fast keine Gitarren. Stattdessen viel Auto-Tune, heitere Melodien, eine große Leichtigkeit und gelegentlicher Sprechgesang. Da wird plötzlich plausibel, dass Heisskalt bei Chimperator einmal Labelkollegen von Cro waren.
Den Mann mit der Pandamaske kann man tatsächlich im Auftaktsong 30 Tage auf Tour als wichtigste Referenz betrachten, allerdings ohne dessen Gespür für Metrum und Reime. Es geht darum, dass Konzertreisen eben zwangsläufig pro Tag anderthalb Stunden Aufregung mit sich bringen, aber auch 22,5 Stunden voller Routinen, Warten und Langeweile – in diesem Fall verstärkt duch die Sehnsucht nach den/der Liebsten zuhause. Getreu des Vorsatzes von Marius, in seinem Solowerk bloß keine schlechte Laune aufkommen zu lassen, wird das mit erstaunlicher Lockerheit vorgetragen, zu der unter anderem Steel Drums beitragen.
Das folgende Für immer hier drin lässt uns an einem Tag voller Netflix & Chill (und Kiffen) teilhaben, der Titelsong dürfte vor allem für die Fans von Heisskalt interessant sein, beginnt das Lied doch mit der Zeile “Danke für den Grund zu gehen” und vergleicht die alte Band mit einem “ausgebleichten Grau”, was die Chancen auf eine harmonische Rückkehr wohl nicht unbedingt steigern dürfte. Musikalisch bietet der Track viele Stimmeffekte und noch mehr Pseudo-Drama – spätestens hier hat man den Eindruck, Marius sei womöglich jemand, der sich selbst viel zu wichtig nimmt und sein Talent grotesk überschätzt.
Der einzige kleine Lichtblick dieser EP ist Ich seh dich, in dem es um Beistand und Mitgefühl geht, die nicht immer unbedingt mit körperlicher Anwesenheit einher gehen müssen. Diese Ernsthaftigkeit passt viel besser zum Anspruch von Selbstfindung und Befreiung. Ansonsten hört man hier einen Mann, der wenig zu sagen hat, diese sehr überschaubaren Inhalte in hölzerne Texte packt und allenfalls solide singt. Das ist zwar ganz anders als die Musik von Heisskalt, aber genauso verzichtbar.