Nick Cave And The Bad Seeds – „Ghosteen“

Künstler Nick Cave And The Bad Seeds

Nick Cave Ghosteen Review Kritik
Ein Kitsch-Paradies ziert das Cover von „Ghosteen“ – vielleicht als Ort des Wiedersehens.
Album Ghosteen
Label Rough Trade
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung

Nick Cave hat vor der Arbeit an diesem siebzehnten Studioalbum von Nick Cave And The Bad Seeds das Onlineforum The Red Hand Files gegründet. Dort gibt er Lebenshilfe und berichtet zugleich sehr offenherzig von seinen eigenen Sorgen – an erster Stelle von seinem Umgang mit dem Tod seines Sohns Arthur, der als 15-Jähriger im Juli 2015 von einer Klippe stürzte. Auch in seinen Konzerten wurde dieser Mix aus Beratung und Selbstreflexion zuletzt ein wichtiges Element. „Nothing can go wrong, because everything has gone wrong”, hat der Sänger etwa im Rahmen einer Show in Cardiff zu einem Rat suchenden Fan gesagt.

Dieser Satz erklärt vielleicht die Radikalität, mit der sich Ghosteen, das nach dem digitalen Release vor einem guten Monat heute auch auf Vinyl und CD herauskommt, von den früheren Werken der Band unterscheidet, auch von den zuletzt veröffentlichten Push The Sky Away und Skeleton Tree (2016), mit denen diese Platte einer Trilogie bildet.

Es gibt auf dem in Los Angeles, Brighton und Berlin aufgenommenen Album viele Ambient- und New-Age-Elemente, es werden reichlich analoge Synthesizer und Chöre eingesetzt, dafür findet man fast nirgends Schlagzeug, Gitarre oder gar einen Refrain. Einen „bedingungslosen Mut zum Schmalz“ hat Der Spiegel das genannt. Selbst der Gesang von Nick Cave, der auf Ghosteen oft ins Falsett verfällt, hat sich stark verändert. Mit anderen Worten: Dies ist kein Rock’N’Roll.

Die elf Songs transportieren Stimmungen statt Erzählungen; vieles scheint eher Halluzinationen entsprungen zu sein als einem wachen, kritischen Geist. Geprägt ist das wohl nicht nur durch den Ansatz der gesamten Trilogie, sondern auch durch Warren Ellis als musikalischen Leiter, der hier bei allen Stücken als Co-Autor geführt wird und zudem Synthesizer, Loops, Flöte, Geige, Klavier und Hintergrundgesang beiträgt. Eine deutliche Parallele zu allem, was man vom Australier bisher kannte, lässt sich indes doch ausmachen: Seine Themen, an erster Stelle den Tod seines Sohns und den Umgang damit, drückt er in Fabeln und Metaphern aus. Ghosteen (wörtlich übersetzt: der kleine Geist) ist dabei zweigeteilt. „The songs on the first album are the children. The songs on the second album are their parents. Ghosteen is a migrating spirit“, sagt Nick Cave.

Die ersten acht Lieder gehören zum ersten Teil, Spinning Song eröffnet den Reigen mit Synthiesounds und einem zunächst nüchternen, fast gesprochenen Gesang. Für die Zeilen „Peace will come in time“ wechselt Nick Cave dann in die Kopfstimme, bevor ihm weitere Stimmen zur Seite eilen. Damit ist die Blaupause geschaffen, die Soundvariationen sind fortan minimal. Im folgenden Bright Horses ist das Klavier etwas klarer als Basis zu erkennen, die schönste Zeile darin heißt: „Everyone has a heart / and it’s calling for something“. In den Beginn von Waiting For You schummelt sich kurz ein dezenter Industrial-Beat, der aber nach ein paar Takten schon wieder ausgeblendet wird. Was sich dann entfaltet, erinnert wegen der totalen Hingabe und Versen wie „Sometimes, a little bit of faith can go a long, long way“ an die Platte, die Elvis Costello mit Burt Bacharach gemacht hat.

Night Raid scheint, unter anderem mit Glockenklängen und sphärischem Backing, eine sehr neblige, unheimliche Nacht zu beschreiben und könnte zu Leonard Cohen passen. Sun Forest enthält mit Reflexion über Abschied und Wiederkehr („I say goodbye to all that / while the future rolls in / like a wave, like a wave“) das wichtigste Motiv des Albums, Galleon Ship klingt wie ein Gebet. Spätestens in Ghosteen Speaks ist klar, dass mit dem kleinen Geist der verstorbene Sohn gemeint ist. „I am beside you“, lautet das Versprechen, „look for me“, heißt die Aufforderung. Leviathan beschließt den ersten Teil mit vergleichsweise prominenten Percussion-Rhythmen und Streichern.

Der zwölfminütige Titelsong läutet Teil 2 ein, der aus drei Stücken besteht. Der Refrain wird eine der opulentesten Passagen des Albums und mit „There’s nothing wrong with loving something / you can’t hold in your hand” enthält Ghosteen vielleicht die schmerzhafteste und zugleich tröstlichste Zeile von vielen aus dieser Kategorie auf diesem Album. Fireflies ist lyrisch etwas näher am alten Nick Cave, Zeilen wie „We are photons released from a dying star“ scheinen die Chaostheorie in eine Meditation zu verwandeln. Fast eine Viertelstunde dauert dann das abschließende Hollywood. Wilde Tiere streunen, angetrieben von zwei unheimlichen, monotonen Basstönen, durch diesen Stadtteil. „I’m just waiting now for my time to come“, lautet eine zentrale Zeile, später wird noch einmal deutlicher, dass damit nicht nur die Sehnsucht nach dem Tod (der vielleicht ein Wiedersehen mit dem verunglückten Arthur bringen kann) gemeint ist, sondern auch die Erkenntnis, dass sich Trauerarbeit nicht per Zwang beschleunigen lässt: „I’m gonna buy me a house / up in the hills / with a tear-shaped pool / and a gun that kills.“

Man kann all das gut verstehen, und wenn man den Hintergrund der Entstehungsgeschichte kennt, gibt es auf Ghosteen etliche herzzerreißende Momente. Was wir hier hören, ist Nick Cave bei der Begegnung mit einem Schock, den Versuchen der Überwindung und der Erkenntnis, dass sich die existenzielle Erschütterung vielleicht verarbeiten lässt, aber nicht überwinden. Das wird umgesetzt mit einer ausgetüftelten Dramaturgie und großem Willen zum Gesamtkunstwerk. Gerade für die beachtliche Spielzeit ist es aber oft einfach zu ereignislos. Man mag einem trauernden Vater nicht noch eine schlechte Kritik zumuten, wohl eine der ganz wenigen in seiner Karriere. Aber Ghosteen ist, nicht nur im Vergleich zu anderen Platten dieses Künstlers, leider weniger ergreifend und niemals packend.

Das ganze Album gab es zuerst auf YouTube.

Website von Nick Cave.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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