Richard Ashcroft – „Alone With Everybody“

Künstler*in Richard Ashcroft

Richard Ashcroft Alone With Everybody Review Kritik
„Alone With Everybody“ ist ein fast nahtloser Übergang von The Verve zum Solowerk.
Album Alone With Everybody
Label Hut Records
Erscheinungsjahr 2000
Bewertung Foto oben: Wikimedia Commons

Auch 25 Jahre nach diesem Hit ist das noch die Szene, die man sofort mit Richard Ashcroft verbindet: Er geht durch eine Straße, Lederjacke über Jeansjacke, Brust raus, Kinn nach oben. Das Video zu Bittersweet Symphony ist ikonisch geworden, nicht nur filmisch, weil es ohne Schnitt auskommt, sondern weil dieser Typ in diesem Moment zu diesem Lied all die unerschütterliche Überzeugung, all die Aufbruchstimmung und all den Ehrgeiz verkörperte, der in Britpop steckte. So umwerfend und glaubwürdig war das damals nicht nur, weil der dazugehörige Song perfekt war, sondern auch weil seine Stimme genau dieser Attitüde entsprach.

Mindestens zwei dieser Stärken hat Ashcroft auch auf sein erstes Soloalbum übertragen, das 2000 erschien, also drei Jahre nach Bittersweet Symphony und ein Jahr, nachdem sich The Verve aufgelöst hatten. Die erste davon ist sein Gesang. Nach wie vor strotz diese Stimme nur so vor Charakter, sie ist nicht technisch überragend, aber (ähnlich wie bei Liam Gallagher oder Ian Brown, die Brüder im Geiste sind, oder auch bei Chris Martin, der Ashcroft einst fürs Vorprogramm von Coldplay verpflichtet hat) so, dass jede einzelne Silbe fasziniert, Bedeutung gewinnt, wie die wichtigste Schallwelle klingt, die jemals dein Ohr erreicht hat.

Die zweite ist das Selbstvertrauen: Er hatte neben Bittersweet Symphony auch einen großen Teil des weiteren Materials auf Urban Hymns geschrieben, mit dem The Verve 1997 die Spitze der Charts im United Kingdom und Platin-Status erreichten. Im Jahr darauf erhielt er den Ivor Novello Award als bester Songwriter des Jahres. Hier glaubt er so stark an das eigene Talent, dass nur zwei der elf Lieder unter der 5-Minuten-Grenze bleiben (und einer davon ist 4:57 lang). Die Überzeugung dahinter scheint zu lauten: Jedes Wort ist Poesie, weil es von Richard Ashcroft kommt, jeder Gitarreneffekt ist genial, jede Wiederholung eines Refrains essentiell.

Blickt man heute, ohne den Hype der Britpop-Jahre, auf Alone With Everybody, muss man allerdings auch feststellen: Diese Selbsteinschätzung stimmt leider nicht. Nicht einmal annähernd. Natürlich kennt man diesen Hang zur mitunter ausufernden Kiffer-Psychedelik und die Neigung, Songs aus Jam-Sessions hervorgehen zu lassen (wobei schon einmal der Fokus verloren gehen kann) bereits von The Verve. Aber Ashcrofts erste Soloplatte nutzt nicht etwa die Möglichkeit, sich durch einen konzisen, kompakten Sound von der einstigen Band abzuheben, sondern erlaubt sich stattdessen erstaunlich viele Momente, die selbstverliebt statt überzeugend und letztlich belanglos sind.

Schon bei I Get My Beat als zweitem Song der Platte merkt man: Mit einer weniger starken Stimme und ohne die Anreicherung durch Chor und Orchester wäre das ziemlich langweilig. Obwohl der Text davon handelt, wie wichtig es ist, sich auch einmal Zeit lassen zu können, dürfte das Stück gerne bloß halb so lang sein. Brave New World ist ähnlich mellow und tiefenentspannt, auch hier gibt es zwei bis drei Momente, in denen man glaubt, das Lied sei jetzt zu Ende (was auch angemessen wäre), bis es sich dann doch noch einmal zu ein paar weiteren Takten aufrafft.

Zur fehlenden Spannung trägt auch bei, dass die Texte des damals 29-Jährigen meist bloß auf dem Niveau von „Liebe ist echt voll wichtig, Alter“ bleiben. Slow Was My Heart zeigt das und kombiniert zugleich ein immerhin solides Fundament mit einem tollen Arrangement, auch On A Beach setzt einen schlichten Gedanken (es wird einfach genossen, frisch verliebt zu sein), sehr elegant und souverän um. Der Song zeigt zudem, wie wertvoll kleine Details für das von Chris Potter produzierte Alone With Everybody sind, in diesem Fall eine Flöte und die zweite Stimme. You On My Mind In My Sleep wird ein ähnlich wunderhübsches Liebeslied, auch hier ist dabei deutlich Ambition zu erkennen, in den Streichern ebenso wie im „Talk to me“-Teil. Crazy World wird nicht zuletzt durch seinen Schwung zu einem positiven Moment der Platte.

Natürlich gibt es auch Großtaten auf diesem Album. Es ist allerdings bezeichnend, dass drei der besten Lieder auf Alone With Everybody noch aus den Sessions mit The Verve für Urban Hymns stammen. Der unfassbar gute Auftakt A Song For The Lovers gehört dazu mit seinem grandiosen Aufeinandertreffen von Beat und Bläsern, Wah-Wah und Wehmut. Wenn nach 38 Sekunden darin dieses erste „Yeeeeeeah“ erklingt, dann hat die Stimme von Richard Ashcroft wieder all ihren Zauber. Dieser Laut klingt verloren, aber in keinem einzigen Moment hoffnunglos, dieses Lied ist irgendwie natürlich eine Ballade, aber da ist auch ganz viel Energie, Ungeduld, sogar Punch.

Fast genauso gut wird C’mon People (We’re Making It Now) mit seiner in den Zeilen „There are so many things I can do / just like falling in love with you“ kulminierenden Atmosphäre voller Optimismus, Gemeinschaft, Leichtigkeit und Freiheitsgefühl – all das waren natürlich sehr zentrale Werte im Britpop. Auch New York war ursprünglich noch für The Verve gedacht, es vereint einen Hauch von TripHop-Modernität mit Dub-Drogensounds und etwas Industrial-Härte und wird so eine schöne Entsprechung für die Melting-Pot-Atmosphäre des Big Apple – natürlich ist bei diesem Lied auch spannend, wie relevant diese Stadt als kulturelle Referenz und Sehnsuchtsort für Richard Ashcroft ist, trotz allen Nationalstolzes.

Zwei der neueren Songs kommen nahe an diese Qualität heran. Dem Album-Abschluss Everybody hört man an, dass hier ein Autor längst weiß, dass er Pop-Klassiker schreiben kann, und viel fehlt zu diesem Status auch hier nicht. Money To Burn vereint Gospel-Momente mit einer alles besiegenden Romantik. Es ist vielleicht das Lied, das am deutlichsten zeigt, warum Richard Ashcroft glaubt, die Welt brauche ihn auch als Solokünstler, und zwar am liebsten gleich mit großer Geste und epischen Songs: So sehr, wie dieser Mann an die alles heilende Kraft der Liebe glaubt, so sehr glaubt er ganz offensichtlich an die weltverändernde Kraft der Musik.

Hoodie statt Lederjacke: So klingt C’mon People (We’re Making It Now).

Website von Richard Ashcroft.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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