Künstler | Turbostaat | |
Album | Nachtbrot | |
Label | 8Null9 | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Ich kann die Ironie gut nachvollziehen, die Tocotronic 1995 in den Titel des gleichnamigen Songs packten, ebenso den Rest von Sehnsucht, der daraus spricht. In Zeiten von Individualisierung und Fragmentierung erscheint diese Aussicht natürlich weiterhin nicht ohne Reiz: eine starke Gruppe von Gleichgesinnten. Eine Gang, die zusammen durch dick und dünn geht, für eine gute Sache. Der Typ, mit dem man die sprichwörtlichen Pferde stehlen kann, multipliziert mal Tausend.
Selten kitzelt mich die Idee der Teilhabe an so einer Gemeinschaft so sehr wie wenn ich Leute mit „Turbojugend“-Aufnäher auf der obligatorischen Jeans-Oberbekleidung sehe. Diese Menschen machen immer den Eindruck: Wir sind keine Sekte oder uniformiertes Zwangskollektiv, sondern stehen füreinander ein, haben mächtig Spaß, repräsentieren die richtigen Dinge. „Ich möchte‘ mich auf euch verlassen können“, war die nächste Zeile im besagten Tocotronic-Refrain, und dann: „Ich will mit euch durch die Straßen rennen.“ Bei der Turbojugend scheint all das zusammenzukommen.
Es ist also naheliegend, dieses Gemeinschaftsgefühl mittels eines Livealbums zu konservieren. Einen guten Anlass haben Turbostaat für ihren ersten Konzertmitschnitt ebenfalls vorzuweisen: Die Band feiert ihr 20. Jubiläum, denn am 7. Januar 1999 haben Turbostaat in Husum ihre erste Probe absolviert, ebenda fast genau vier Monate später das erste Konzert gespielt. Den Geburtstag feiern sie ausgiebig: Nachtbrot ist eine CD mit 21 Liedern und 82 Minuten Spielzeit, ebenso wird es als Doppel-LP mit Fotoband erscheinen. Zugleich ist die Idee eines Livealbums von Turbostaat allerdings auch gefährlich. Kann man Effekte wie Zusammenhalt, Euphorie, Identifikation wirklich auf einen Tonträger bannen? Ruiniert die Konservierung nicht gerade das Gefühl der Einmaligkeit, wirklich dabei gewesen zu sein?
Die Antwort lautet: Man kann unbesorgt sein. Produzent Moses Schneider hat den Taumel des Liveerlebnisses wunderbar eingefangen. Nachtbrot bietet Tempo, Krawall, Hymnen, Ungestüm, Feuer, Leidenschaft und Drastik. Die Stücke sind in sich recht ähnlich, trotzdem gibt es auch über 21 Lieder hinweg keinerlei Spannungsabfall. Aufgenommen wurden die Songs bei drei aufeinanderfolgenden Konzerten im April 2018 im Conne Island in Leipzig, „weil das hier immer so geil ist“, wie Sänger Jan Windmeier ganz am Ende von Nachtbrot in einer seiner wenigen Ansagen erklärt.
Der vielleicht wichtigste Pluspunkt des Albums wird gleich im ersten Song deutlich: Ruperts Grün wird erst kurz von der Gitarre dominiert, dann entwickeln Marten, Rolli, Jan, Tobert und Peter gemeinsam reichlich Druck, dann beginnt der Gesang – und nicht nur der Schlachtruf „Alles ist besser als der Tod“ wird mitgesungen, sondern jede einzelne Zeile. Das gilt in diesem Lied, und es gilt das gesamte Konzert über, vom direkt folgenden Haubentaucherwelpen, das noch einmal die Botschaft unterstreicht, anders zu sein, Fragen zu stellen und ausbrechen zu wollen, über 18:09 h, Mist, verlaufen, das schon auf dem ersten Demo von Turbostaat aus dem Juli 1999 zu finden war, bis hin zu Vormann Leiss mit dem Versprechen: „Wir können alles / und alles können wir sein.“
Man könnte fast glauben, Jan Windmeier habe ein ganz besonderes Effektgerät erfunden: Alles, was er singt, klingt als komme es von Hunderten Stimmen. Das ist auch so eindrucksvoll, weil der Gesang der Fans so prominent im Mix berücksichtigt ist. Passend dazu werden alle Namen der Konzertbesucher im Conne Island im 60-seitigen Booklet zu Nachtbrot aufgeführt – klarer könnte man nicht herausstellen, dass ein Konzert von Turbostaat ein Gemeinschaftswerk von Band und Publikum ist.
Wie diese intensive Verbindung entsteht, ist nicht allzu schwer zu entschlüsseln. Die Leitmotive auf Nachtbrot (und in der gesamten Karriere von Turbostaat) sind Zusammenhalt, Wut, Liebe und Trauer. Aus Ja, Roducheln sprechen die Weigerung, die Dinge einfach hinzunehmen, und der Frust, der daraus erwächst, dass alle Welt das trotzdem von uns verlangt. Drei Ecken – ein Elvers betont ebenfalls den eigenen Wert, wieder im Gegensatz zur tumben Mehrheit da draußen. „Das Senken der Köpfe / ist die Antwort auf den Schmerz“, heißt es in Sohnemann Heinz, aber es ist unverkennbar, dass diese Band unbeugsam ist und immer aufrecht gehen wird. Das ebenso intensive wie einmalige Insel klingt beinahe wie ein Moment der Gemeinschaftstherapie: Der ganze Saal wird zur Selbsthilfegruppe.
Wolter bietet nicht nur ein Gefühl von Ungeduld und Bedrohung, sondern fasst mit den Zeilen „Die Namenlosen singen für dich / ein Lied voller Trauer und Zorn“ den Abend auch treffend zusammen. Die Aufforderung „Lasst uns zusammen singen“ ist darin natürlich reichlich überflüssig. Die Botschaft von Tut es doch weh? ist ähnlich der von Junge (Die Ärzte), aber hier wird sie nicht mit Augenzwinkern und Klamauk rübergebracht, sondern mit Unerbittlichkeit. Auch Harm Rochel nimmt den Kampf der Generationen in den Blick, und „Jugend“ meint dabei natürlich nicht das, was auf der Geburtsurkunde steht, sondern Offenheit, Aufbegehren, Hoffnung.
„Wir waren fünf der Übriggebliebenen und geplant war lediglich, dass wir ein bisschen Deutschpunk ballern. Wir wollten gemeinsam etwas erleben, ein paar Shows spielen und mit etwas Glück würde uns jemand dabei zuhören – und verdammt, wir hatten Glück“, schreibt Roland „Rolli“ Santos in den Liner Notes zum Livealbum über die Anfangstage von Turbostaat. Auch Jan Windmeier artikuliert diese Demut: „Danke euch, dass wir das hier machen dürfen“, lautet der letzte Satz, den er auf dieser Platte sagt.
Geschickt sorgt das Quintett auf Nachtbrot mit ein paar Details für Abwechslung und Überraschung, ohne den sehr geschlossenen Gesamteindruck zu verwässern. Eisenmann hat Ähnlichkeit mit einem Horror-Rock-Musical, Island Manöver zeigt in den ersten zwei Minuten, wie viel Kraft ihr Sound auch ohne Text hat, Fraukes Ende dürfte die entschlossenste Form von Todessehnsucht sein, die jemals dokumentiert wurde. Mit Kriechkotze gibt es außerdem noch eine Coverversion von Dellwo, schließlich wird Schwan ein Schlusspunkt, der die Kraft dieses Abends und das Wesen von Turbostaat wunderbar zusammenfasst: Erst kann man eine ordentliche Dosis Romantik entdecken, am Ende herrschen dann Ekstase und Seligkeit zugleich.