Deichkind – “Niveau Weshalb Warum”

Künstler Deichkind

Mal geistreich, mal gonzo: Das ist auch diesmal das Deichkind-Rezept.
Mal geistreich, mal gonzo: Das ist auch diesmal das Deichkind-Rezept.
Album Niveau Weshalb Warum
Label Sultan Günther Music
Erscheinungsjahr 2015
Bewertung

Erstaunlich. Keine andere deutsche Band steht so sehr für Überraschung, Knalleffekt und Anarchie wie Deichkind. Und dann packt man gespannt ihr sechstes Album aus und bekommt: genau das, was man erwartet hat. Das übermorgen erscheinende Niveau Weshalb Warum ist so, wie man Porky, Kryptic Joe und Ferris Hilton kennt: witzig, irre, aktuell, schlau, fies. Und, ähem, leider geil.

Die Single Denken Sie groß ist ein Paradebeispiel: Die Message ist ähnlich wie bei Bück dich hoch, die Musik ist (bis auf ein Heavy-Metal-Gitarrensolo von Dirk Berger) auch gewagt nahe an diesem Vorbild vom letzten Album. Es geht um grenzenlose Gier, falsche Prioritäten und eine Work-Life-Balance, die aus den Angeln gehoben wurde. Dazu persiflieren Deichkind wunderbar den Sprech von Motivationstrainern, Anlageberatern und Venture-Capital-Spinnern.

Powered By Emotion besteht ausschließlich aus Werbeslogans, und das ist natürlich eine sehr schlaue Form für Konsumkritik. Umso wirkungsvoller wird das, weil man problemlos 80 Prozent der Sprüche in diesem Track sofort die passende Marke zuordnen kann und so erst merkt, wie sehr man von diesen Botschaften ein Leben lang infiltriert worden ist, ob man will oder nicht. Mehr als lebensgefährlich thematisiert diverse Luxusprobleme und zeigt, wie albern es ist, sich von ihnen auch nur in minimalster Weise beunruhigen zu lassen.

Die Welt ist fertig illustriert wunderbar, wie Deichkind es verstehen, aus der Doppeldeutigkeit eines einzigen Worts („fertig“ wird hier im Sinne von „abgeschlossen/vollendet“ und im Sinne von „im Arsch/völlig am Ende“ gebraucht) einen ganzen Track zu machen, und auch noch ein bisschen Sozialkritik (und Auto-Tune) mit reinzupacken. Naschfuchs wird eine alberne Fantasie über die Sucht nach Süßigkeiten mit entsprechend infantiler Musik. „Wir haben Ferris, und was habt ihr?“ lautet der Kampfschrei in Was habt ihr?, der Song wird ein enorm spaßiger Mix aus Blödeln und der Feier des Freaks.

Hört man Niveau Weshalb Warum ein bisschen öfter, fallen zwei Sachen besonders auf. Erstens: Deichkind überhöhen sich nicht, und das ist im HipHop natürlich höchst ungewöhnlich. Selbst wenn sie zum Auftakt des Albums mit So ’ne Musik erst einmal das Revier markieren, begegnen sie ihrem Publikum nicht aus der Position des „Ich bin cooler als der Rest der Welt“, sondern auf Augenhöhe. Sie kennen die Lebenssituation ihrer Fans, die im Kinderzimmer oder in der Weiterbildung stecken, Ritalin futtern oder ein Katerfrühstück. „Wir agieren so zielgruppenorientiert“, behaupten sie im Text, und das ist eindeutig nicht nur ironisch gemeint.

Dazu passt – auch das ist höchst ungewöhnlich – dass sich ihre Wut, ihre Aggressivität, ihr Diss niemals gegen andere Rapper richten, sondern gegen alles. Der Feind für Deichkind ist das große Ganze. Wenn sie kritisieren, dann geht das immer auch gegen uns als Hörer und gegen die Band selbst, und genau deshalb funktioniert ihr Mix aus ehrlichem Engagement und Scheißegal-Attitüde (die hier vom annähernd instrumentalen Rausschmeißer Oma gib Handtasche verkörpert wird). Der Titelsong untermauert diese These. Niveau Weshalb Warum handelt vermutlich vom Vergnügen, auch mal dada und prollig sein zu dürfen. Das funktioniert bestens als Partykracher, zeigt aber ebenso: Auch Komasaufen, Über-die-Stränge-Schlagen und Aufkündigen der Political Correctness können eine Form von Rebellion sein, eine besonders kurzweilige Form des Aufstands im Schlaraffenland.

Zweitens muss man der Platte attestieren, dass sie musikalisch etwas berechenbar geraten ist, was allerdings in erster Linie daran liegt, dass so viele andere Acts mittlerweile den Sound zwischen Kinderzimmer, Gonzo und Festivalkracher kopieren, den Deichkind geschaffen haben. Die Melodie in Like mich am Arsch ist, als Beispiel, beinahe ein Klon von Egolution. Im Text zeigen Deichkind allerdings extrem gewitzt, wie flüchtig, bequem und oberflächlich ein reines Online-Leben ist – erst recht, wenn es um zwischenmenschliches oder politisches Engagement geht. „Es ist für uns echt so ein schmaler Grat, das beizubehalten, was du bist, und gleichzeitig was Neues zu schaffen. Dich selbst zu stoken, dich motiviert zu halten, das weiter zu machen“, hat Philipp alias Kryptic Joe kürzlich im Interview mit Noisey gesagt, ein wenig hört man Niveau Weshalb Warum diese Schwierigkeit an, immer innovativ zu bleiben.

Die musikalisch ungewöhnlichsten Momente sind ausgerechnet die ruhigen Tracks. Hauptsache nichts mit Menschen klingt beinahe, als wollten Deichkind kapitulieren vor der Ignoranz, die vor der Haustür wartet. Bei Porzellan und Elefanten fragt man sich schnell: Ist das wirklich ein Liebeslied? Es könnte sein, mit „Wir gehören zusammen“ als zentraler Zeile im Refrain und einer Musik, die man sich auch problemlos auf dem nächsten Album von Rihanna vorstellen könnte, fast ohne Beat und mit beinahe konventionellen Electropop-R&B-Zutaten. Und Der Flohmarkt ruft (feat. Herr Spiegelei) wird, untermalt von Akkorden à la Bakerman von Laid Back, tatsächlich so etwas wie ein Sittengemälde vom Flohmarkt.

Es gibt wohl nur ein passendes Wort für die Fähigkeit, all dies zu wagen und all dem einen ganz eigenen Stempel aufzudrücken: Punk.

Deichkind zum Selberbasteln zeigt das Video von Denken Sie groß.

Im Frühjahr gibt es reichlich Konzerte von Deichkind:

08.04.15 Lingen – EmslandArena
09.04.15 Münster – Halle Münsterland
10.04.15 Düsseldorf – Mitsubishi Electric Halle
11.04.15 Dortmund – Westfalenhalle
13.04.15 Saarbrücken – Saarlandhalle
14.04.15 Hannover – Swiss Life Hall
15.04.15 Karlsruhe – Schwarzwaldhalle
16.04.15 Neu-Ulm – Ratiopharm Arena
18.04.15 Frankfurt – Jahrhunderthalle
19.04.15 Freiburg – Zäpfle Club / Rothaus Arena
20.04.15 CH-Zürich – Maag Event Hall
21.04.15 Augsburg – Kongress am Park
23.04.15 A-Graz – Stadthalle
24.04.15 A-Linz – TipsArena
25.04.15 Würzburg – s.Oliver Arena
26.04.15 München – Zenith
28.04.15 Berlin – Max-Schmeling-Halle
29.04.15 Flensburg – Flens-Arena
30.04.15 Aurich – Sparkassen-Arena
01.05.15 Hamburg – O2 World

Homepage von Deichkind.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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