Für ein Konzert ist man in diesen Tagen ja hochgradig dankbar. Das gilt für Musikliebhaber im Publikum ebenso wie für die auftretenden Acts, die Veranstalter und die Locations, die normalerweise diese Art von Kultur- und Unterhaltungsprogramm bieten. Wenn es dann gleich 40 Konzerte sind, und auch noch welche, die garantiert zum angekündigten Termin stattfinden, darf man erst recht aufhören. Erfüllt wird dieses Versprechen von einer gemeinsamen Initiative in Bremen. Sie stellt im Pier 2, einem der vielen durch die Pandemie hart getroffenen Venues, schon seit 14. Januar den virtuellen Club 100 auf die Beine, in dem es noch bis 31. Mai Corona-konforme (Streaming-)Konzerte gibt. Wenn die Hygiene-Auflagen es erlauben, ist eine begrenzte Zahl von Fans vor Ort, übers Netz können beliebig viele Menschen dabei sein und beispielsweise Milliarden, Pohlmann oder Selig auf der Bühne sehen. Für April und Mai wurden gerade neue Shows angekündigt, darunter von Thees Uhlmann (3. Mai), Madsen (8. Mai), Olli Schulz (27. Mai) und Funny Van Dannen (28. Mai). “Es tut einfach allen Beteiligten unglaublich gut, zu wissen, dass eine Veranstaltung auch tatsächlich stattfindet und nicht zum x-ten Mal verschoben wird. Das ist Balsam für die Seele“, sagt Gero Stubbe von Koopmann Concerts. Seine Firma hat gemeinsam mit Partnern vor Ort die Idee zum Club 100 entwickelt und umgesetzt, die durch die Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa und die Wirtschaftsförderung Bremen finanziert wird. Zum Konzept gehört nicht nur ein hoher Qualitätsanspruch (bis zu sieben Kameras), sondern auch die Hoffnung, für die Dauer der Pandemie vielleicht ein halbwegs tragfähiges Format zu etablieren („Viele der Bands sehen das Streaming im Club 100 als Chance, das Genre Streaming neu zu denken und mit uns zusammen neue Formen, die im Netz sehr gut funktionieren, zu entwickeln“, sagt Christian Tipke von der Sendefähig GmbH, die das Streaming umsetzt) und nicht zuletzt um Solidarität. Denn die Einnahmen gehen nicht nur an die Bands, Veranstalter und technischen Dienstleister, sondern auch an Sicherheitspersonal oder Tresenkräfte, die derzeit eben auch ohne Job sind. Zudem partizipieren an den Erlösen des Club 100 auch weitere Bremer Musikkneipen und Veranstaltungsorte, die jeweils für einen Termin die virtuelle Schirmherrschaft übernehmen. „Es geht schlichtweg um Existenzen“, sagt Olli Brock, Betreiber des Pier 2. „Hinter einem einzigen Konzert stehen nicht nur Künstler*innen, sondern eine lange Wertschöpfungskette, die betroffen ist.“
Auch Porter Robinson hat sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie ein schönes Konzerterlebnis trotz Covid-19 möglich sein kann. Schon 2020 hat er deshalb das virtuelle Musikfestival Secret Sky auf die Beine gestellt. Bei der diesjährigen Auflage am 24. April gab es unter anderem Auftritte von Boys Noize, James Ivy oder Kero Kero Bonito zu sehen, zudem präsentierte der Mann aus North Carolina dort erstmals live die Songs aus seinem tags zuvor erschienenen Album Nurture. Der Zugang zu Secret Sky ist über YouTube, Twitch und weitere Kanäle möglich. Nach der Registrierung (sie ist kostenlos, man darf aber gerne für den von Porter Robinson unterstützten MusiCares COVID-19 Relief Fund spenden) kann man einen eigenen Avatar erstellen und mit diesem die Virtual Reality des Festivalgeländes erkunden. Dazu gehören neben spektakulären Visuals bei den Bühnenshows auch Live-Voice-Chats mit den anderen Besuchern, verschiedene Umgebungen und ein Party-Modus, der die komplette Location verändert. Wie die Musik klingt, die es auf dem ersten Album des Künstlers seit sieben Jahren gibt, zeigt beispielsweise die Single Look At The Sky (***). Das ist euphorischer Elektropop mit einem großen Willen zum Optimismus und Selbstbehauptung als zentralem Thema. Die Geister, die es im Video zu sehen gibt und die Porter Robinson nach dem Erfolg des Debüts Worlds (2014) wohl plagten, hat er offensichtlich erst einmal erfolgreich verjagt.
Megan Markwick und Lily Somerville, besser bekannt als IDER, wurden zu Corona-Opfern, als sie nach Berlin kamen, wo sie eigentlich ihr gesamtes zweites Album aufnehmen wollten. „Wir sind angekommen, und vier Wochen später kam Covid. Bis dahin hatten wir drei himmlische Wochen erlebt und sehr viel neue Musik geschrieben. Es war genau, wie wir uns Berlin erträumt hatten: Wir haben ein völlig chaotisches Leben völlig frei von Routinen geführt. Dann mussten wir aber wie Thelma & Louise die Flucht ergreifen, weil die Ansage lautete: Wenn ihr nicht jetzt sofort nach London zurückkehrt, werdet ihr nie mehr zurückkommen können“, erzählt die Band. Die Single Cross Yourself (***1/2) stammt aus dieser Phase und wird zudem das neue Album Shame eröffnen, das Markwick und Somerville dann zuhause in England fertiggestellt haben. Der Song zeigt, dass IDER ihren unkonventionellen Tagesablauf offensichtlich in ebenso freigeistige Sounds umgesetzt haben, die auch ein paar Einflüsse aus dem Berliner Nachtleben integrieren, bevor am Ende ihr einmaliger Harmoniegesang in den Vordergrund darf. „Cross Yourself reflektiert darüber, wie wir alle nach einem Zweck suchen – wie wir den Dingen oft Bedeutung beimessen oder die Idee von etwas Äußerem mögen, an das wir glauben können, weil uns umgekehrt vielleicht der Glauben an uns selbst fehlt“, erklären sie. Auch dieses Thema passt natürlich gut in die Zeit.
Wie Oehl es geschafft haben, inmitten einer Pandemie das grandiose Video zu Arbeit zu drehen (Regie: Rupert Höller), das mit einem Group Hug von rund 30 Menschen (alle ohne Mund-Nase-Schutz!) endet, verraten sie leider nicht. Was das alles mit Corona zu tun hat, wird aber sehr schnell deutlich, denn die Geste im Clip zeigt vieles von dem, was wir alle gerade vermissen: soziale Kontakte, Miteinander, Nähe, Berührung. Zugleich macht das Lied (***1/2) mit dem Oehl-typischen Mix aus äußerst originellen Beats, kluger Lyrik und verschlafenem Gesang deutlich, wie unsinnig unser Fokus auf Erwerbsleben als Lebensinhalt ist, auch über die Corona-Situation hinaus. Das in Wien ansässige Duo hat offensichtlich Work Hard, Play Hard gesehen oder sich anderweitig mit der freiwilligen Verwandlung vieler Mitmenschen in Ressourcen für die Wirtschaft und den damit oft nicht mehr ganz kurzen Weg in Burn Out oder Depression beschäftigt. „Wenn man sich mal mit der globalen Finanzwirtschaft und der Arbeitswelt auseinandersetzt, muss man eigentlich zum Marxisten werden“, sagt Ariel Oehl. Natürlich möchte er das gemeinsam mit seinem Bandkollegen Hjörtur Hjörleifsson nicht einfach hinnehmen. Arbeit ist der Vorbote für ein neues Mini-Album, das am 2. Juli erscheinen wird und im Titel 100% Hoffnung verspricht.
Die Ärzte sind in einer Pandemie besonders wichtig, das weiß natürlich auch die gleichnamige beste Band der Welt aus Berlin. Mit Ein Lied für jetzt (****) haben auch sie sich dem allgemeinen Wahnsinn und dem schwierigen Musikerdasein unter Corona-Bedingungen gewidmet. Sie nennen es „ein Lied für drinnen. (…) Für Couchpotatoes. Ein Lied für Endlich-Plattensammlung-digitalisieren. Für Mal-wieder-Küche-wischen“, bleiben bei all diesen wenig spektakulären Aussichten aber glücklicherweise streng auf Seiten der Vernunft, also all derer, die verstanden haben, dass die nun geltenden Maßnahmen nun einmal notwendig sind, um möglichst bald wieder ein normales Leben leben zu können. Ihr Song ist deshalb auch „ein Lied für Händewaschen. Für anderthalb Meter. Für die Armbeuge. Ein Lied für Krankenschwestern und -brüder. Für den Bereitschaftsdienst. Ein Lied für Johns Hopkins. Für Robert Koch. Für Christian Drosten. Für Max Planck. Ein Lied für Solidarität. Ein Lied für alle“, wie Bela, Farin und Rod mitteilen. Legt man sein Herumalbern im Video zugrunde, leidet Bela B. offensichtlich am meisten unter Lockdown und Isolation, immerhin haben Die Ärzte aber wohl das Beste aus der Situation gemacht und sich hier der Kraft der Albernheit und Spontaneität erinnert. Zugleich kündigen sie mit dem Lied für jetzt auch indirekt ein neues Album an: „Wir würden gern auf Tour gehen / das ist gerade nicht erlaubt / darum haben wir zuhause / ein paar Songs zusammen geschraubt.“