Autor*in | Dave Eggers | |
Titel | Every | |
Verlag | Kiwi | |
Erscheinungsjahr | 2022 | |
Bewertung | Foto oben: Bild von Thomas Ulrich auf Pixabay |
„Kein Mensch liest diese Klappentexte“, lautet der erste Satz im, jawohl, Klappentext dieses Romans. Dave Eggers bietet darin eine wunderbar zynische Mini-Abrechnung mit Amazon (insbesondere dem Einsatz von Nutzungsanalysen in E-Books, um literarische Texte auf Basis der Leser*innen-Verhaltens vermeintlich zu optimieren) und der Vergötterung von Daten und Algorithmen insgesamt. Er stellt darin dann noch Berechnungen zur idealen Seitenzahl für ein Buch und zur künstlerischen Qualität von Don Quijote vor, die bis auf die zweite Dezimalstelle angegeben wird.
Schon nach dieser Ouvertüre weiß man sehr genau, was in Every sein Thema und sein Anliegen sein wird. Im Mittelpunkt steht der gleichnamige Konzern, der mit der Kombination aus Suchmaschine, Social-Media-Plattform und E-Commerce-Anbieter noch größer und noch finanzstärker ist als The Circle, aus dem diese Firma nach einem weiteren Zukauf hervorgegangen ist und der wiederum in einem 2013 veröffentlichten Roman von Dave Eggers bereits der Schauplatz war. Auch in der Fortsetzung begegnet der Autor nicht nur der hier erreichten Machtposition extrem kritisch, sondern auch den gesellschaftlichen Folgen, die solche Monopole haben. Every wird porträtiert als „das skrupelloseste und gefährlichste Unternehmen, das es je gab – eine existenzielle Bedrohung für alles Ungezähmte und Faszinierende der menschlichen Spezies“.
Auf diesen Konzern lässt er Delaney Wells los, eine 32-jährige Frau vom Lande, die einst als Park Ranger im Einsatz war und sich jetzt um einen Job im Every-Hauptquartier beworben hat. Ihr Plan: Sie will die Firma von innen heraus zerschlagen. Vorgeblich will sie sich kreativ einbringen und die Wohltaten preisen, die Every mit seinen Diensten ermöglicht hat, von Selbstoptimierungs-Wearables am Handgelenk bis hin zu einem kaum getarnten Online-Pranger für Menschen, die sich größere oder kleinere Fehltritte geleistet haben und dabei von den allgegenwärtigen Kameras (natürlich aus dem Hause Every) gefilmt und von der Gesichtserkennungs-Software (natürlich aus dem Hause Every) sofort identifiziert worden sind. In ihrer Abschlussarbeit an der Uni, die bereits Teil ihrer Sabotage-Strategie war, schrieb sie, „dass einem Unternehmen, das alles weiß und alles am besten weiß, doch wohl erlaubt werden sollte, das Leben der Menschen ungehindert zu verbessern.“
Mit solchen Sätzen bringt Eggers den Irrglauben vieler Internet-Entrepreneure auf den Punkt, die weder einen Sinn für Ästhetik noch ein Verständnis für historische Kontinuitäten oder gar Wertschätzung für einen so durch und durch analogen Begriff wie „Moral“ haben. Es ist eine „Mischung aus gut gemeintem Utopismus und pseudofaschistischer Verhaltenskonformität“, wie es an einer Stelle treffend heißt, die ihn an aktuellen technologischen Entwicklungen so umtreibt, und die offensichtlich die größte Motivation für dieses Werk ist.
Das Problem an Every ist: Dem süffisanten Tonfall und der klaren Positionierung im Klappentext lässt Eggers dann kaum mehr neue Elemente folgen. Als Manifest ist dieses Buch sehr wirkungsvoll, als Literatur aber nicht allzu überzeugend: Delaney bleibt als Hauptfigur flach und eindimensional, ihre Lust auf Widerstandskampf ist so wenig überzeugend wie die Wandlung ihres Mitstreiters Wes, eines talentierten Programmierers, der sich aber mehr für Surfen und seinen Hund interessiert als für Karrieremöglichkeiten. Die Dialoge sind seltsam steril, das Spiel mit Klischees und Slogans stürzt recht früh in sich selbst zusammen. Mehr noch: Der Roman setzt recht viele Inhalte aus dem Vorgänger als bekannt voraus. Und die Idee, dass Delaney als Neuling im Unternehmen zunächst eine Tour durch verschiedene Abteilungen unternimmt, bietet ihr zwar die perfekte Gelegenheit, um die Schwachstellen von Every und somit einen geeigneten Angriffspunkt für ihre Guerilla-Aktion zu finden. Es sorgt aber auch dafür, dass sich Abläufe stetig wiederholen, was auch in der Lektüre einen etwas ermüdenden Effekt hat.
Freilich muss man bei einem Autor dieser Klasse davon ausgehen, dass das alles Absicht ist, also Every womöglich eher Satire als Dystopie sein soll. In der Tat bedient Eggers in seinem Plot erstaunlich zielgenau alles, was sich Amazon wünschen würde: eine junge Heldin, reichlich Cliffhanger, eine angedeutete Liebesgeschichte. Er zeigt zugleich die sich selbst verstärkenden Effekte der Infantilisierung im Social-Media-Zeitalter und das Versagen von Regulierung auf. Prinzipien und Methoden des Kapitalismus (dazu zählen Optimierung und Automatisierung durch Algorithmen natürlich) wirken hier zunehmend in Bereiche hinein, in denen kommerzielle Logiken nichts zu suchen haben sollten: Politik, Familie, Kunst, Kultur. Seine in nicht allzu ferner Zukunft angesiedelte Welt stellt den Wert von Daten über den gesunden Menschenverstand, die Kuratierung durch Algorithmen über die Ergebnisse eines echten Diskurses. Er zeigt auf, wie damit einerseits Urheberschaft geleugnet wird und sich somit andererseits auch niemand mehr verantwortlich fühlen muss. Er verweist auf eine Pandemie, die alles schlimmer gemacht hat, und immer wieder auch auf den Klimawandel, der als Vorwand für Repression und soziale Kontrolle dient. Every ist „die Fabrik, die Konformität herstellt“, und zwar unter dem Deckmantel von angeblich maximal individualisierten Angeboten.
Es wäre leicht, hier einen Autor zu vermuten, der beleidigt ist vom Zeitgeist, der kleinen Buchläden nachtrauert, unabhängigen Verlagen, Rezensionen von echten Menschen in gedruckten Tageszeitungen. All das trifft zweifelsohne auf Dave Eggers zu. Zugleich kann man sich seinem Plädoyer mit der Botschaft, nur offline könne man wirklich lebendig sein und das zur Entfaltung bringen, was uns als Menschen ausmacht, kaum entziehen. Vor allem aber zeigt er in Every trotz aller Schwächen sehr klar, wohin aktuelle Entwicklungen führen könnten: Die Datenkraken, die meist in unseren Smartphones sitzen, wollen erst unsere Aufmerksamkeit, dann unsere Autonomie und schließlich unseren Verstand.
Der vielleicht stärkste Aspekt des Romans ist dabei die Reihe von App-Ideen, die Delaney bei Every vorschlägt. Ihr Kalkül ist, dass diese immer unethischer werden, immer weiter in die Privatsphäre eindringen, immer anmaßender werden in ihrem Anspruch, unser Verhalten zu messen, auszuwerten und letztlich zu regulieren. So will sie eine Welle der öffentlichen Empörung in Gang setzen, die Every schließlich hinwegfegen soll. Mit der einen oder anderen App-Idee, die Eggers dabei schildert, hätte er vielleicht Millionen verdienen können. Dass er sie lieber literarisch verarbeitet als sie tatsächlich im Silicon Valley (wo der Autor lebt) zu vermarkten, ist rührend altmodisch – und bewundernswert konsequent.
Bestes Zitat: „Every ist ein geschlossenes Ökosystem, und ein geschlossenes Ökosystem betrachtet alles, das sein Gleichgewicht stören könnte, mit Misstrauen und sogar Feindseligkeit.“