Künstler*in | Gerry Cinnamon | |
Album | Live At Hampden Park | |
Label | Little Runaway | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung | Foto oben: Fleet Union / Anthony Mooney |
Über das Singen in Stadien hat Gunnar Leue gerade ein lesenswertes Buch geschrieben. Es heißt You’ll Never Sing Alone und enthält neben einem interessanten Blick auf das Miteinander von Fußball und Musik auch ein Vorwort von Thees Uhlmann. Der ist bekanntlich nicht nur großer Fan des FC St. Pauli, sondern auch Musiker. Er bringt das Gefühl, gemeinsam mit Zehntausenden von Gleichgesinnten ein Auf und Ab der Gefühle und nicht zuletzt ein Gemeinschaftsgefühl beim Singen zu erleben, darin wunderbar auf den Punkt und schreibt beispielsweise von der „Suche nach einem emotional verbundenen Kollektiv“ oder „diesem unbeschreiblichen Gefühl, in einer Gruppe aufzugehen, die die gleiche Liebe teilt“.
Man kann das auch auf Live At Hampden Park erleben. Natürlich nicht nur, weil Gerry Cinnamon hier in einem Fußballstadion in seiner Heimatstadt Glasgow singt, das knapp 52.000 Menschen fasst und das er im Sommer 2022 an zwei Abenden in Folge ausverkauft hat, was zuvor nie einem schottischen Künstler gelungen ist. Sondern natürlich auch, weil seine Musik und seine Geschichte so wundervoll zur Idee passen, dass man mit Leidenschaft, Aufrichtigkeit und Zusammenhalt alles schaffen kann, wie der Abstiegskandidat, der plötzlich um den Titel mitspielt.
Zur Erinnerung: Gerry Cinnamon hat es quasi im Alleingang vom Musiker, der in Pubs auftritt und zuhause seine Songs schreibt, zum Platin-Künstler (diesen Status hat unter anderem sein 2017er Debütalbum Erratic Cinematic erreicht) und Chart-Spitzenreiter (sein zweites Album The Bonny stieg 2020 auf Platz 1 ein und wurde zum drittbestverkauften britischen Album des Jahres) geschafft. Seine mitreißenden Live-Auftritte, sein Habitus als Kumpeltyp und seine Lieder mit Texten mitten aus dem Leben haben diese Cinderella-Story ermöglicht, die in der Tour 2021/22 mit insgesamt 350.000 Fans ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
Der 38-Jährige weiß natürlich genau, wie wichtig Mund-zu-Mund-Propaganda und begeisterte Besucher*innen seiner Shows für seine Erfolgsgeschichte sind. Dass er nun – nach nur zwei Studioalben – bereits einen Konzertmitschnitt veröffentlicht, hält er deshalb nicht nur für angemessen, sondern für überfällig: “Diese Lieder sind nicht vollständig, wenn sie nicht live gesungen werden. Die Fans sind ein Teil der Band. Ich wollte das schon seit Jahren machen. Und es war klar, dass es in Hampden passieren musste.”
So kann man auf Live At Hampden Park nicht nur den triumphalen Empfang eines Homecoming Hero im Nationalstadion erleben, sondern auch die Definition von guter Stimmung. In Lullaby als Auftakt bangt man um die Gitarre von Gerry Cinnamon, mit so viel Eifer und Vorfreude drischt er darauf ein. Die Fans singen derweil, wie mehrmals im Verlauf dieses Doppelalbums, ein enthusiastisches “Gerry, Gerry, Gerry fucking go”. Das Lied selbst ist im Kern der gute alte Blues und als Start der Platte auch kein Paukenschlag. Es klingt eher so, als ob alle Beteiligten erst einmal mit der Situation klar kommen müssten.
Das Euphorie-Level ist trotzdem von Beginn an riesig, auf der Bühne und im Stadion. Bei Sometimes singen die Fans nicht nur den Text, sondern auch die Gitarrenmelodie lauthals mit. Bei Dark Days bilden sie später einen Chor, als wären sie alle Freunde, die in derselben Straße mit dem Typen auf der Bühne aufgewachsen sind. Bei Discoland dürfen sie noch ein bisschen mehr eskalieren, weil Gerry Cinnamon daraus ein Eurodance-Medley macht, in das er auch Wonderful Days (von Charly Lownoise & Mental Theo) und I Wanna Be A Hippy (von den Technoheads) einbaut. Zum Abschluss gibt es Canter gleich zweimal, zunächst die Aufnahme vom Samstag, dann auch noch die Version der Show vom Sonntag. Die Fans singen die erste Strophe komplett alleine, am Ende meint man tatsächlich am Klang (!) zu erkennen, dass da La Ola durch den Hampden Park schwappt.
Zwei Faktoren verstärken ganz offensichtlich den Effekt dieser beiden Groß-Events. Erstens wollte Gerry Cinnamon diese Shows schon 2019 spielen, sie waren dann auch innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Doch wegen der Corona-Einschränkungen konnten die Konzerte erst drei Jahre später über die Bühne gehen. Die Fans scheinen nach der quälend langen Wartezeit umso entschlossener, all ihre Freude rauszulassen, auch über das Ende der Pandemie. Zweitens ist hier unverkennbar der “Einer von uns”-Effekt zu spüren. Man hört den Stolz und die Identifikation der Fans, besonders deutlich, als Gerry Cinnamon I Wish I Was In Glasgow anstimmt, das im Original von Billy Connolly stammt, einem seiner Vorbilder.
Auch ihm selbst merkt man an, wie sehr ihm das Gelingen dieser beiden Abende am Herzen liegt. Zwischendurch hört man von ihm auf Live At Hampden Park immer wieder kleine Grüße an die Fans oder auch spontan eingeworfene Kraftausdrücke, als finde er keinen anderen Weg, all seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, quasi wie ein Mega-Show-Tourette. So gibt es in Fortune Favours The Bold ein “fuck ’em” und ein “beautiful, man”, zugleich zeigt dieses Lied vielleicht am ehesten, wie schlicht seine Lieder im Kern sind, aber wie sehr sie eben auch das repräsentieren, was man auf der Insel anerkennend “a fucking tune” nennt. In Where We’re Going integriert er ebenfalls mal einen Spruch an jemanden im Publikum, mal ein Kichern über irgendetwas, das er im weiten Rund entdeckt hat.
Mit Sacred gibt es einen neuen Song, der irgendwo zwischen den Proclaimers und (irritierenderweise) Chris de Burgh changiert. In vielen Momenten gelingt es, die Intimität dieser Lieder auch auf einer riesigen Bühne zu bewahren, War Song Soldier hat sogar weiterhin den Spirit von Straßenmusik und Pub-Abend. The Bonny unterstreicht, dass Gerry Cinnamon nur ein kleines Besteck braucht, um trotzdem große Gefühle zu besingen (und zu erzeugen). Fickle McSelfish wird nicht nur wegen des etwas schrägen Finales sehr besonders, ein Lied wie Diamonds In The Mud ist so gut, dass es die ganze märchenhafte Geschichte und eindrucksvolle Persona dieses Künstlers gar nicht braucht.
Ghost ist einer der Songs, der von der Umsetzung in kompletter Bandbesetzung profitiert, Mayhem unterstreicht, dass man in Glasgow manchmal auch Lust auf Komplexität, sogar auf etwas Pomp hat. Belter bekommt eine Extra-Portion Inbrunst, auch der von Gerry Cinnamon gerne angewandte Trick, zwischendurch das Tempo eines Songs mächtig anzuziehen, funktioniert hier am besten. Kampfire Vampire entwickelt gegen Ende der Show sagenhaft viel von einer ganz ursprünglichen Kraft.
Unterm Strich zeigt Live At Hampden Park perfekt, was ein gutes Livealbum ausmacht. Es ist singulär und universell zugleich: Man wünscht sich, man wäre dabei gewesen, weil man erkennt, dass dies ein einzigartiger Moment war. Und man erkennt doch auch: Dieser Künstler wird jederzeit in der Lage, so ein besonderes Erlebnis noch einmal möglich zu machen, an jedem Abend, überall auf der Welt.