Boy – „We Were Here“

Künstler Boy

Covers des Albums We Were Here von Boy bei Grönland
Die perfekte Balance aus Bauch und Hirn finden Boy auch auf ihrem zweiten Album.
Album We Were Here
Label Grönland
Erscheinungsjahr 2015
Bewertung

Ohne einen Ton davon gehört zu haben, muss man davon ausgehen, dass Boy mit We Were Here eines dieser typischen zweiten Alben nach einem sensationell erfolgreichen Debüt gemacht haben. Songtitel wie Hotel, No Sleep oder Fear deuten stark darauf hin, dass hier der Ruhm und Stress verarbeitet wird, der so unverhofft über Sonja Glass und Valeska Steiner hereingebrochen ist.

Die Vorab-Single, zugleich der Titelsong, hatte diesen Verdacht vor ein paar Wochen bestätigt. „We were here / we were here / we were really here“ , singen sie im Refrain, als müssten Boy sich selbst versichern, dass all dies wirklich passiert ist: fast 40 Wochen in den deutschen Charts mit dem Debüt Mutual Friends, Goldstatus, Radiohits in Japan, ausgiebige Tourneen in Amerika, umjubelte Festival-Auftritte.

Allerdings erkennt man in We Were Here auch noch ein anderer Effekt. “And everywhere we were, we made the city sing“, lautet eine der ersten Zeilen. Boy wissen zu genießen, was sie erreicht haben, die Begeisterung, die Erinnerungen, die Begegnungen, die Wertschätzung, die Möglichkeiten. Entsprechend erklingt das Lied – programmatisch am Beginn des heute erscheinenden Albums platziert – ausgerechnet in einem Sound, der fragil und mysteriös bleibt und kein bisschen den Eindruck macht, er lege es auf Selbstbehauptung an.

Hört man die lang erwartete neue Platte dann schließlich, bestätigt sich dieser Eindruck. Es geht hier nicht um Leugnen und Verdammen dessen, was geschehen ist, sondern um Wachsen und Weiterentwickeln. We Were Here klingt wie ein Album der Besinnung, wie das vorsichtige Öffnen der Augen nach einer rauschhaften Partynacht, die fast zwangsläufig einen mächtigen Kater nach sich ziehen müsste. Aber Boy wissen, dass sie ein kleines bisschen Hoffnung haben dürfen, dass eine so herrliche Partynacht eine eigene Magie entwickeln kann, die dafür sorgt, dass sie auf wundersame Weise nicht durch einen Kater am Morgen danach getrübt werden wird.

Selbst ein Lied wie Hotel, das tatsächlich von der frustrierenden Routine und der Gefahr der Entfremdung während des Tourneelebens handelt, von Minibar, Fernbedienung, sauberen Bettlaken, Einchecken und Auschecken, bringt Boy niemals in den Verdacht des Selbstmitleids, denn der Text betrachtet eher das System Hotel als das verlorene Ego darin. „A hotel room is a hotel room is a hotel room“, heißt die Erkenntnis, und die Musik dazu klingt tatsächlich genau nach der Zwischenwelt, die ein Hotel eben ist: Ein Gebäude, das vorgibt, dir ein Zuhause zu sein, wenn du drin bist, und vorgibt, Anonymität zu bieten, wenn du draußen bist.

Das zauberhafte New York zeigt eine weitere wichtige Stärke des Albums: Boy haben sich, auch jetzt wo viele ihrer Träume wahr geworden sind (auch solche, die sie vielleicht nie zu träumen gewagt hätten), die Fähigkeit zum Träumen bewahrt. Rivers Or Oceans ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Sonja Glass und Valeska Steiner weiterhin auf die vertrauten Zutaten vertrauen: Es gibt Ghostnote-Gitarren, einen federleichten Refrain und Beats, die es bei aller Komplexität nie wirklich in den Vordergrund schaffen, niemals diese an Eleganz nicht zu überbietende Stimme in den Schatten stellen könnten.

Der Rhythmus lässt auch im tanzbaren Hit My Heart aufhorchen. Da steckt ein bisschen vom Geist der Neptunes drin, Handclaps und Kalimba und Vampire-Weekend-Gitarre, später werden dem ein fast schüchterner Chor und äußerst dezente Streicher gegenüber gestellt. Fear entwickelt von allen Tracks des Albums vielleicht am meisten Schwung, sogar eine Ahnung von Ausbrechen, aber auch dies ist ein Lied, das sagenhaft würdevoll in sich selbst ruht.

Bevor man da an Ladyhawke oder Florence denken kann, hat man längst registriert, wie unverwechselbar der Sound auch auf dem zweiten Album von Boy ist. Flames illustriert das vielleicht am besten: Es beginnt mit Harmoniegesang von Valeska Steiner und Sonja Glass, der nicht nur nach enger Verbindung klingt, sondern nach Symbiose. Danach entfaltet sich ein Lied, dessen Bestandteile locker 40 Jahre alt sein könnten. Aber Boy schaffen es, den Song hoch aktuell, sogar brisant klingen zu lassen.

Wie sie das machen? Mit Liedern, die auf unnachahmliche Weise intuitiv zu sein scheinen und doch in jedem Moment klar machen, wie schlau sie sind. Dass es „no cure for the feeling“ gibt, stellen Boy in No Sleep fest – und natürlich ist das ein Umstand, den sie nicht wirklich bedauern. Denn auch dieses Lied steht viel eher für ein Gefühl als für ein Ereignis, erzählt viel eher eine Stimmung als eine Geschichte. Auch das umwerfend schöne Into The Wild greift am Ende der Platte dieses scheinbare Dilemma auf, aus dem Boy ihre Kunst machen: „My heart races and my mind cannot catch up.“

Höhepunkte sind schwer zu benennen. Wie schon Mutual Friends wirkt auch We Were Here wunderbar rund, Vor dem Hintergrund des Erfolgsdebüts ist es aber noch erstaunlicher, wie reduziert die Lieder von Boy oft wirken, was auch diesmal vor allem daran liegt, dass absolut jeder Ton an der richtigen Stelle sitzt.

We Were Here ist ein hinreißendes Album, das jeden Monat des Wartens belohnt und das Kunststück schafft, in keiner Weise wie eine Reaktion auf Mutual Friends zu wirken, sondern wie das entschlossene Fortschreiten einer Band mit einer sehr klaren künstlerischen Vision und einem fast übermenschlichen Gespür für die Balance zwischen Authentizität und Inszenierung, Akustischem und Elektronischem, Bauch und Hirn. Boy sind ein Geschenk: Es gibt nicht viele andere Bands, in deren Sound man sich so problemlos so schnell so wohl fühlen kann, ohne dass ihm auch nur ein winziges bisschen Banalität innewohnen könnte.

Der Albumtrailer zu We Were Friends.

Boy sind im September auf Clubtournee.

02.09. Oldenburg – Kulturetage
03.09. Köln – Gloria
04.09. München – Technikum
05.09. Zürich/CH – Plaza
07.09. Wien/AT – RadioKulturhaus/FM4 Radio Session
08.09. Dresden – Beatpol
09.09. Berlin – Lido
10.09. Hamburg – Mojo Club

Homepage von Boy.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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