Roxette – „The Complete Video Collection“

Künstler Roxette

Roxette The Complete Video Collection Review Kritik
Fast vier Stunden Spielzeit bietet die „Complete Video Collection“ von Roxette.
DVD Ballad & Pop Hits. The Complete Video Collection
Label EMI
Erscheinungsjahr 2003
Bewertung

Es ist Zufall, aber 1988 – also in dem Jahr, in dem der internationale Erfolg von Roxette begann – erschien ein Computerspiel namens Rock Star Ate My Hamster. Man schlüpfte dort in die Rolle eines Managers für Bands und sollte innerhalb eines Jahres möglichst viele Platten verkaufen. Als Startkapital standen 50.000 Pfund aus einer Erbschaft zur Verfügung.

In diesem Spiel muss man Instrumente kaufen, gegen Bootlegger vorgehen, Proben organisieren, Auftrittsorte für Konzerte buchen, Sponsoren finden und nicht zuletzt die Künstler bei Laune halten. Die größte Stärke des Spiels ist sein sarkastischer Blick aufs Musikgeschäft. Die Bandmitglieder, die man zu Beginn unter Vertrag nehmen kann, heißen Bimber Baggins, Tina Turnoff oder Jason Doner-Kebab. Die Bands, die von diesen Figuren gebildet werden (oder mit denen man um die besten Chartpositionen konkurrieren muss), bekommen Namen wie „Extra Potent Screaming Armageddon” oder „Startled by Midgets”. Die vom Computer generierten Songs können Titel haben wie „Ooh Baby You Make Me Feel Good“ oder „Dancing The Flu Away“, auch mit Liedern wie „Girls Will Be Boys“ oder „I’m In Love With Myself“ kann man es weit nach oben schaffen.

Was dabei hilft (zumal in einem Computerspiel, das in der Blütezeit von MTV entstanden ist), sind natürlich auch Videoclips. In Rock Star Ate My Hamster gilt es, zunächst einen Regisseur auszusuchen (zur Auswahl stehen beispielsweise Busby Berserkly, Cecil Bidet Mill, Steven Cheeseburger oder Wrigley Scott), einen sehenswerten Schauplatz zu identifizieren und eine künstlerische Idee vorzugeben. Dabei reicht das Spektrum von „Boring live footage“ über „Macho He-Men hanging out“ bis hin zu „Werewolves, ghouls and elves“. Am erfolgreichsten werden nach meiner Erinnerung solche Clips, bei denen „busty Lovelies under the shower“ oder Ähnliches im Storyboard steht.

Und damit sind wir bei der Complete Video Collection von Roxette. Schaut man die 2003 veröffentlichte Werkschau ihrer Videoclips, wird schnell deutlich, dass sie zumindest zwei der Standard-Elemente aus dem Computerspiel-Repertoire auch sehr regelmäßig berücksichtigt haben, nämlich die Zusammenarbeit mit sehr renommierten Regisseuren und die Vorliebe für spektakuläre Locations.

In der Liste der Filmkünstler, mit denen das schwedische Duo hier gearbeitet hat, finden sich einige der namhaftesten Video-Regisseure überhaupt. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit mit ihrem Landsmann Jonas Akerlund, der gleich zehn Clips betreut hat. Auch Anton Corbijn findet sich in der Videographie von Roxette. Ebenso offensichtlich ist die Vorliebe für besondere Schauplätze: Bei Listen To Your Heart, Fading Like A Flower, Vulnerable, Anyone und Church Of Your Heart wird das besonders deutlich, hier soll in erster Linie die Location selbst das Video prägen, ohne dass zusätzlich noch sonderlich spektakuläre Dinge passieren.

Dass die Clips von Roxette so gut zu den Klischees aus dem Computerspiel passen, überrascht letztlich nicht. Zum einen hatten Per Gessle und Marie Fredriksson nie ein Problem damit, sich im Mainstream zu bewegen, im Gegenteil. Zum anderen bleiben, wenn man nicht zu einem Genre zählt, das eine eigene visuelle Ästhetik vorgibt (etwa Rap oder Punk), oder sich auf Storyteller-Songs spezialisiert hat, die sich auch problemlos als Kurzfilme umsetzen lassen, für jeden Künstler nur wenige Optionen, um die meist banalen Inhalte eines Liebeslieds mit Bildern anzureichern. Prototypisch dafür ist Queen Of Rain, das mit pseudo-poetischen Bildern aufgeladen wird: Menschen spielen Schach und Boule, ein Fahrrad und ein Auto scheinen eine wichtige Bedeutung zu haben. Und natürlich regnet es auch.

Spezifika lassen sich auf The Complete Video Collection natürlich trotzdem erkennen. Da ist zum einen der Hang zu gewagten Outfits, der sich längst nicht immer mit den üblichen modischen Fehlgriffen der Achtziger und Neunziger erklären lässt: Per offenbart eine Vorliebe für Schlangendrucke und knallbunte Lederhosen, Maries Farbentupfer-Mantel in Milk And Toast And Honey steht diesen als optischer Ausrutscher in nichts nach.

Zum anderen wird deutlich, wie wenig diese beiden Menschen sich in ihren Videos als Duo zu erkennen geben. Sie agieren eher nebeneinander als miteinander, sie stehen – meist als breitbeiniger Typ mit Gitarre und leichtbekleidete Frau – in der Kulisse statt Protagonisten zu sein. Das gilt vor allem für die späteren Werke. In You Don’t Understand Me ist Per Gessle überhaupt nicht zu sehen, bei Anyone ist er nur für ganz wenige Sekunden im Bild, bei Stars fehlt er ebenfalls komplett. Bei The Look und Dressed For Success gibt es zumindest ein wenig Interaktion, auch in Joyride, How Do You Do und Sleeping In My Car. In Crash Boom Bang kann man sogar eine kurze Berührung beobachten. Salvation ist der einzige Clip, in dem beide gleichrangig als Protagonisten agieren. Da wirken sie erstmals wie ein Duo, fast sogar wie ein Paar.

In den insgesamt 37 Videos wird sonst sehr deutlich, wer sich hier vor der Kamera wohler fühlt: Per wird nur bei Vulnerable zum Hauptdarsteller, Marie ist hingegen die Person, die sonst im Mittelpunkt steht und – wie bei den Konzerten von Roxette – als Blickfang in Szene gesetzt wird, im Minirock, in Unterwäsche, als peitschenschwingende Domina (in The Big L.) oder gleich halbnackt wie in Do You Get Excited?

Diese Inszenierung ist wohl zum einen ein Ausdruck des damaligen Zeitgeists (insbesondere bei The Look und Dressed For Success wird deutlich, wie eng sich die von Peter Heath gemachten Clips an einer Hardrock-Bildwelt orientieren, wie sie damals für Billy Idol oder Alice Cooper üblich war), zum anderen aber wohl auch nicht ganz gegen den Willen der Sängerin geschehen. In den beiden Dokumentationen, die sich auf dieser DVD finden, sagt Marie, dass das Drehen von Videos zu den Dingen gehört, die ihr am Musikgeschäft am meisten gefallen, und dass sie sich sogar eine Schauspielkarriere vorstellen könnte: „I really love to act.“ Per scheint mit seiner Nebenrolle in den meisten der Roxette-Videos ebenfalls kein Problem zu haben: „Marie ist eine Performerin, auch vor der Kamera. Ich bin eher der Büro-Typ.“

Insgesamt 37 Lieder sind zu hören, neben allen damaligen Roxette-Singles zählen dazu auch ein paar Albumtracks oder Raritäten wie Un Dia Sin Ti (die spanische Version von Spending My Time) oder das später als B-Seite veröffentlichte Frühwerk I Call Your Name. Obwohl die Clips nicht chronologisch sortiert sind, sondern wie auf den parallel erscheinenden Best-Of-Alben etwas willkürlich in The Pop Hits und The Ballad Hits unterteilt wurden, lässt sich dabei auch eine künstlerische Entwicklung ausmachen. Unverkennbar sind die Clips zu Dangerous und Listen To Your Heart 1989 in einem Aufwasch gedreht und produziert worden, ebenso zwei Jahre zuvor die Videos zu Neverending Love und Soul Deep. Das zeigt, wie Anspruch, Budgets und Kreativität in den Videos dieser Band seitdem gestiegen sind, teils sogar antiproportional zur Bedeutung des Musikfernsehens oder zu den Verkaufserfolgen von Roxette.

So dürften sich selbst für Menschen, die mit der Musik des Duos nicht allzu viel anfangen können, ein paar Highlights finden. Spending My Time setzt auf innovative Special Effects, Crash Boom Bang ist sichtlich ambitioniert, You Don’t Understand Me gelingt eine eindrucksvoll morbide Ästhetik, die auch zu preisgekrönten Clips etwa der Smashing Pumpkins passen würde.

Wish I Could Fly und Anyone (Regie in beiden Fällen: Jonas Akerlund) sind ebenfalls sehr gelungen, Opportunity Nox fängt als Zeichentrick-Clip gut die Überdrehtheit des Lieds ein. Joyride ragt nicht nur deshalb heraus, weil es damals auf MTV auf Heavy Rotation lief, sondern auch wegen seines Ideenreichtums, How Do You Do findet eine gute visuelle Entsprechung für die sommerliche Leichtigkeit des Lieds und die vergleichsweise spontane Herangehensweise beim Tourism-Album, dessen Lead-Single es war. In June Afternoon und Real Sugar lässt sich gar ein Hauch von Selbstironie erkennen, Fireworks ist auch heute noch ein origineller Augenschmaus.

Für Fans ist die Videosammlung natürlich allemal lohnend. Einschließlich der beiden Dokumentationen (Really Roxette legt den Fokus auf das Tourleben, gerade der Rückblick auf die damals schon eine Weile zurückliegende erfolgreichste Zeit macht den Film dabei reizvoll; bei The Making Of Joyride ist der Titel selbsterklärend) kommt man auf fast vier Stunden Spielzeit. Und man gelangt zu einem Fazit, das letztlich auch den Machern von Rock Star Ate My Hamster gefallen hätte: Roxette haben ihre Videos gelegentlich als Chance zu kleinen Kunstwerken begriffen. Vor allem aber sahen sie darin ein Marketing-Format, gerade in der Zeit ihres größten Erfolgs: Man kann nicht in allen Ländern, auf allen Bühnen oder in allen Fernsehstudios gleichzeitig sein – aber ein Video kann den Fans einen guten Ersatz dafür bieten.

Aus der Blütezeit (und auf einer Tragfläche): Roxette im Video zu Joyride.

Website von Roxette.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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