Steffen Mau Ungleich vereint

Steffen Mau – „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“

Autor*in Steffen Mau

Steffen Mau Ungleich vereint
Steffen Mau Ungleich vereint Buchkritik
Titel Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt
Verlag Edition Suhrkamp
Erscheinungsjahr 2024
Bewertung Foto oben: Marco Verch unter CC-BY 2.0-Lizenz

In der Musik würde man vielleicht von einem „Bonustrack“ sprechen: Das nur 168 Seiten umfassende Ungleich vereint ist nämlich ein Nebenprodukt. Der Makrosoziologe Steffen Mau hatte die Ergebnisses seines Forschungsprojekts zur politischen Polarisierung in Deutschland bereits in Triggerpunkte veröffentlicht. Die darin nur angedeuteten Gedanken zum Verhältnis zwischen Ost und West wollte er aber noch einmal ausführlicher und eingehender darstellen.

Dass Mau (wie zuvor auch schon mit Lütten Klein) mit Triggerpunkte großen Publikumserfolg hatte, spielte bei der Entscheidung für ein weiteres Buch vielleicht ebenso eine Rolle. Sicher darf man auch davon ausgehen, dass er weit rezipierte Wortmeldungen (die in Ungleich vereint auch bewertet werden) wie die von Dirk Oschmann nicht unwidersprochen stehen lassen wollte. Und dass drei Monate nach Erscheinen dieses Büchleins in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein neuer Landtag gewählt wird, dürfte auch ein Argument zur Veröffentlichung gewesen sein. Schließlich will Mau hier vor allem Sachlichkeit und Analyse einbringen in eine aufgeheizte Debatte voller Empörung und Missverständnisse, Verletzungen und Verwerfungen.

Im Kern des Buchs steht seine „These sich verstetigender Unterschiede“. Das meint: Das noch immer in vielen Köpfen verankerte Bild vom Westen als Norm und dem Osten als Abweichung, der sich seit mehr als 30 Jahren aber immerhin schrittweise auf dem Weg in Richtung des westlichen Normalzustands befindet, ist falsch. „Das Buch geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen im Lichte jüngerer Entwicklungen als Schimäre erweist“, heißt es gleich zu Beginn.

Das bedeutet einerseits: Es gibt kein Zusammenwachsen mehr, nicht wirtschaftlich, nicht politisch und auch nicht in den Mentalitäten. Mau liefert dafür zahlreiche eindrucksvolle Belege, etwa bei der Vermögensverteilung. Die Aufholbewegung des Ostens bei der „Angleichung der Lebensverhältnisse“, die in Zeiten der Wiedervereinigung so lautstark in Aussicht gestellt worden war, ist zum Stillstand gekommen. Es bedeutet andererseits: Der Osten bleibt, zum Teil als Resultat dieses uneingelösten Versprechens, anders – und zwar auf lange Zeit. Mit seinen Forschungsarbeiten belegt er sowohl, dass der Westen dauerhaft (oder gar vermehrt) irritiert auf den Osten blickt (nach dem Motto: Wann kommen die endlich zur Vernunft, indem sie so wie wir werden?), als auch, dass sich viele Ostdeutsche – selbst solche, die nach 1990 geboren wurden – immer stärker mit dieser Herkunft identifizieren (nach dem Motto: Was hier passiert ist und noch immer passiert, prägt mich und kann auch nur von hier aus verstanden werden.)

„Trotz der vielen Einheitserfolge lässt sich ein Fortbestand zweier Teilgesellschaften beobachten, die zwar zusammengewachsen und in vielerlei Hinsicht konvergiert sind, aber in ihren Konturen noch immer deutlich hervortreten. Ost und West sind mehr als zwei Himmelsrichtungen, wenn man auf soziale Strukturen, Mentalitäten und politische Bewusstseinsformen schaut“, lautet einer der zentralen Sätze. „Klischees, welche die Ostdeutschen als ‚rückständig‘ oder ‚noch nicht angekommen‘ beschreiben, können zur Ausbildung eines Gruppengefühls beitragen, das sich über die Zeit verselbstständigt. Aber es sind eben auch die Besonderheiten kollektiver Erfahrungslagen und der sozialstrukturellen Verfasstheit, die ein Unterschiedsempfinden hervorrufen. Der Osten wird nicht nur durch gewissen westdeutsche Medien ‚verandert‘, er ist auch anders.“

Die Ursachen dafür zeichnet Steffen Mau ebenso prägnant wie nachvollziehbar nach. „Aus asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sind heute recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse geworden. Hinzu traten postsozialistische Dynamiken wie Umbrucherfahrung und Transformationsschock, die sich als mächtige Generatoren von Differenz erweisen sollten“, schreibt er. Eine der großen Stärken seines Buchs ist es dabei, dass er zwar eine wissenschaftliche Herangehensweise wählt, aber eben auch den ostdeutschen Alltag kennt und nicht zuletzt die Emotionalität, die mit diesem Thema verbunden ist. Er beschreibt etwa die Ignoranz des Westens gegen noch so leidenschaftliche Appelle zur Zeit der Wiedervereinigung, etwa Proteste gegen Massenentlassungen. Ähnlich wie etwa Jana Hensel trauert er auch der Möglichkeit nach, im Einigungsprozess eine echte Verfassungsdebatte mit einem „Best of both worlds“-Ziel geführt zu haben. Stattdessen „weitete sich die Bundesrepublik in der Fläche aus und inkorporierte die DDR, ohne größere Berücksichtigung der dort gewachsenen Strukturen und Mentalitäten“.

Mau macht auch klar, wie fahrlässig es war, den im Osten gerade erst entstandenen demokratischen Schwung direkt 1990 wieder abzuwürgen, indem man (im neuen System geübte) Leute aus dem Westen an quasi allen gesellschaftlichen Schaltstellen der neuen Bundesländer platziert hat, statt die Menschen aus der ehemaligen DDR, notfalls auch als Demokratie-Amateure, weiterhin selbst dieses neue System mitgestalten zu lassen. „Der Eindruck, überrollt und übernommen zu werden und an Handlungsmacht einzubüßen, stellte sich bei vielen ein, interessanterweise auch bei jenen, die im Herbst 1989 nach den Jahren der Stagnation und Unmündigkeit euphorisch aufgesprungen und zu neuen Ufern aufgebrochen waren.“

Als Resultat attestiert er eine ganz erheblich andere politische Kultur, in der etwa die Macht der Straße eine viel größere, etablierte Parteien hingegen eine viel geringere Rolle spielen als im Westen. Mau sieht Tendenzen zu etwas, das „eher Einforderungsdemokratie denn Mitwirkungsdemokratie ist: eine Demokratie der Lauten.“ Natürlich richtet sich dabei der Blick auch auf die AfD, in deren Erfolgen sich aus westlicher Sicht die Dysfunktionalität des Ostens manifestiert. Mau, der Ungleich vereint nach eigenen Angaben als „Intervention“ versteht, ist dabei weit davon entfernt, Entschuldigungen oder Rechtfertigungen zu suchen, sondern hält seinen Landsleuten hüben wie drüben den Spiegel vor, wie solche Statements zeigen: „Ostdeutschland mangelt es bis heute an einem robusten sozial-moralischen und soziostrukturellen Unterbau, der Toleranz, ein empathisches Demokratieverständnis und ein Bekenntnis zu den Prinzipien der liberalen Ordnung tragen könnte.“

Ohnehin ist der Autor erfreulich meinungsstark, wobei allerdings leider nicht immer klar wird, wo eine von ihm eingenommene Position ein Zitat, eine Ableitung aus den eigenen Forschungsergebnissen oder persönliche Meinung ist. Eine weitere kleine Schwäche ist dem schmalen Umfang geschuldet: Manchmal ist die Darstellung zu kompakt. Gerade, weil Mau ein Meister der Differenzierung ist, und weil es natürlich um hoch komplexe Themen geht, hätte man sich (trotz Fußnoten) an einigen Stellen mehr Details und Hintergründe gewünscht.

Ungemein wohltuend ist hingegen, wie ausnehmend konstruktiv dieses Werk ist. „Die Ost-West-Brille, die ich in diesem Buch aufgesetzt habe, sollte uns helfen, klarer zu sehen, wie Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt“, stellt Mau beispielsweise heraus – es geht ihm also nicht um Schuldzuweisungen oder Rechthaberei, sondern um eine klare Analyse, die einen Mehrwert für die öffentliche und politische Debatte bieten kann, woraus sich schließlich auch Ansätze für Problemlösungen ableiten lassen. Sehr klar arbeitet Ungleich vereint auch heraus, wie häufig der Osten bereits als Avantgarde in Erscheinung getreten ist, nicht zuletzt auch für kritische Entwicklungen (wie beispielsweise schwindende Tarifbindung, De-Industrialisierung, Erfolge des Rechtspopulismus oder die Fragmentierung des Parteienspektrums bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der Volksparteien), die dann verzögert im Westen ankommen.

Am Schluss seines Buchs skizziert der Autor, wie Ostdeutschland zu einem Labor neuer Partizipationsformen und alternativer Formen der Demokratie werden könnte, etwa über Bürgerräte, deren Wirkung Mau in internationalem Maßstab ebenfalls bereits untersucht hat. Auch das unterstreicht seinen Ansatz, der hier auf jeder Seite deutlich wird: Anders als andere will er sich zu diesem Thema nicht bloß auf Basis der eigenen Biographie auskotzen, er will kein Öl ins Feuer gießen und auch nichts verklären. Vielmehr ersetzt er Klischees durch Fakten und hat – trotz der Diagnose der „andauernden Zweiheit in der Einheit“ – stets das Ziel im Blick, dass Ost und West vernünftig, demokratisch und gleichberechtigt miteinander dieses Land gestalten können.

Bestes Zitat: „Werte und kulturelle Orientierungen passen sich nicht flexibel veränderten Umständen an; sie weisen einen Eigensinn auf, werden tradiert, schreiben sich fort. Und vermutlich nisten sie sich vor allem dann besonders gut ein, wenn sie über die Binnenkommunikation sozialer Gruppen stabilisiert werden.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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