Auch dafür kann eine Pandemie gut sein: Als Lou Barlow und John Davis bedingt durch den Lockdown gezwungen waren, ihr Musikerdasein weitestgehend ruhen zu lassen, verbrachten sie ziemlich viel Zeit auf Facebook. Barlow, der unter anderem mit Dinosaur Jr, Sebadoh und als Solokünstler viele Fans gewonnen hat, saß in Massachusetts. Davis, der seit 2013 ebenfalls wieder als Solist aktiv war, saß in North Carolina. Und sie stellten fest: Sie trafen online immer wieder aufeinander, interessierten sich für sehr ähnliche Themen und bewegten sich in denselben Facebook-Gruppen. „Es war mitten in der Pandemie und wir waren alte Musiker, die viele der gleichen Dinge kommentierten“, sagt Barlow. Das war der Ausgangspunkt, um The Folk Implosion wieder ins Leben zu rufen. Die beiden hatten schon seit 1989 gemeinsam musiziert, 1993 veröffentlichten sie ihr erstes Album unter diesem Namen, 1995 machten sie zusammen den Soundtrack zum Kinofilm Kids und landeten mit Natural One sogar einen Hit. Nach drittem Album One Part Lullaby (1999) stieg John Davis aus, Lou Barlow machte ab 2003 mit The New Folk Implosion weiter. Davis hatte sich schon vor den Corona-Monaten gedanklich wieder dem gemeinsamen Werk angenähert. Wenn er bei Konzerten die alten Folk-Implosion-Songs spielte, bekam er viel Zuspruch von seinen Fans. „Es gab einen Moment, in dem ich mir Sorgen machte, dass einer von uns aufhören würde oder wir nie wieder miteinander reden könnten. Also beschloss ich, dass wir es wieder aufgreifen sollten“, erzählt er. So, wie sie sich einst Kassetten und Briefe geschickt hatten, arbeiteten sie nun erneut aus der Ferne gemeinsam an neuer Musik, diesmal online. Ergebnis war zunächst die Single Feel It If You Feel It (2021), gefolgt von einer EP im Jahr darauf. Am 28. Juni wird nun das von Scott Solter produzierte Album Walk Thru Me erscheinen. „Wir beschlossen, ein paar Songs zu machen, ohne jemandem zu sagen, dass wir wieder zusammen sind“, erinnert sich Davis. „Auf diese Weise weckten wir keine Erwartungen, und niemand schaute zu.“ Der Song My Little Lamb (***1/2) ist dabei ziemlich unmittelbar von der Covid-Erfahrung geprägt. „Das ist mein erster Versuch zu artikulieren, wie es ist, Vater zu sein“, sagt Lou Barlow. „Während der Pandemie sind mir so viele wilde und herzzerreißende Dinge passiert, und ich wollte sie alle in diesen Song packen.“ Das Ergebnis ist erstaunlich schwungvoll und zuversichtlich, auch wenn darin nicht nur durch Barlows Stimme auch Zartheit und Zerbrechlichkeit erkennbar werden. Auch die asiatischen Elemente am Ende des Lieds sind überraschend. Wunderbar gelungen ist der Text, der sehr poetisch das Dilemma zusammenfasst, verantwortlich zu sein und trotzdem loslassen zu können. „The more you say / the less they know“, lautet am Anfang Barlows Erkenntnis beim Blick auf seine Kinder, am Ende dann noch schöner: „The more we care / the more we grow.“
Eine unverhoffte Wiedervereinigung brachte die Corona-Zeit auch für Katrin Achinger. Schon seit 30 Jahren nennt sie ihre jeweilige Begleitband The Flight Crew, mit der aktuellen Besetzung, bestehend aus Krischa Weber (Cello), Christoph Meier (Bass und Banjo) und Dieter Gostischa (Schlagzeug und Percussions), ist sie seit 2018 aktiv. „Nach einem vielversprechenden Start in 2019 kam Corona und wir drehten ein paar Runden in der Warteschleife“, sagt die Hamburgerin, die 1980 mit Matthias Arfmann die Kastrierten Philosophen gegründet hatte. Genau den traf sie während der Pandemie-Zeit wieder, er hatte gerade die Wiederveröfentlichungen sämtlicher Alben und eine Werkschau von Kastrierte Philosophen geplant, für die auch zwei neue Songs entstanden. Nun ist ihr damaliger Bandkollege (und Ex-Mann) als Gast auf dem neuen Album von Katrin Achinger & The Flight Crew dabei, Matthias Arfmann spielt Gitarren und Keyboards beim Song Tenement House. Auch Marie-Laure Timmich (Gesang auf Promise Of Love) wirkte bei den Aufnahmen für Get On Board mit, die direkt nach dem Lockdown begannen. Klaus Sieg spielt Gitarre im Titelsong, der als Vorab-Single veröffentlicht wurde und mit seinem Text auch gut zu den Erfahrungen der Covid-Phase passt. Es geht in Get On Board (***) um den Wunsch, aus der Isolation auszubrechen und Verbindungen aufzubauen. Den Song könnte man mit etwas mehr Aggressivität als Stoner Rock bezeichnen, er zeigt viel Erfahrung und Könnerschaft, verströmt aber auch große Offenheit für den Moment. „Nun bin ich über 60, zweifache Großmutter. Ein neues Abenteuer hat angefangen, das wesentlich vielschichtiger erscheint als alle vorherigen“, sagt Katrin Achinger. Das Album ist am 3. Mai erschienen.
Eine alternative Karnevalsband in ihrer Heimatstadt Köln. Musik für Tanzperformances. Kompositionen für Theaterstücke. Das waren einige der kreativen Spielwiesen, auf denen sich Lisa Spielmann in der Zeit vor Corona getummelt hat. Dass sie sich dann ausgerechnet Anfang 2020 – also mitten in der Pandemie – entschied, diese zu verlassen und stattdessen ernst zu machen mit ihrer Solokarriere, ist durchaus erstaunlich. Was sie antreibt, zeigt aber unter anderem Manchmal (***1/2), die zweite Single aus ihrem Debütalbum Luft, Liebe, Pommes, das am 16. August herauskommen wird. Sie erklärt darin, wie viel Erfüllung und Freude es bringen kann (unter anderem) einfach nur zu singen – und wie wichtig es ist, solche kleinen Glücksmomente auch zu erkennen und in sein Leben zu lassen. Diese Botschaft verpackt Lisa Spielmann in einen sehr angenehmen Sound, ohne dass der Song deshalb harmlos bliebe. Manchmal schwingt sich stattdessen durch ein tolles Arrangement auf, sogar Auto-Tune fügt sich sehr harmonisch ein in diese anfangs rein akustische Nummer. In Summe wird das Lied dadurch in seiner Leichtigkeit immer ansteckender und überzeugender. Auch hier wird ein Enthusiasmus erkennbar, der offenbar typisch ist für diese Künstlerin: Nach dem Kaltstart in der Corona-Zeit stellte sie ein Crowdfunding auf die Beine, heimste eine Förderungen der Initiative Musik ein und engagiert sich als Mitglied von musicNRWwomen. Passend dazu liegen Produktion, Label, Verlag und Vertrieb auch bei ihrem kommenden Album komplett in der Hand von Frauen.
Als Tony Allen im Jahr 2020 starb, haben viele große Stars dem 79-Jährigen ihre Anerkennung gezollt. Brian Eno bezeichnete ihn als „den vielleicht besten Schlagzeuger aller Zeiten“, Damon Albarn trauerte um einen „unglaublichen Musiker und Freund“, die Red Hot Chili Peppers verabschiedeten sich in einem Statement von „einem der größten Musiker aller Zeiten“. Sehr groß dürfte die Bestürzung auch bei Foals-Frontmann Yannis Philippakis gewesen sein, denn er hatte 2016 eine Kollaboration mit Tony Allen als Yannis & The Yaw gestartet, die eigentlich noch viele weitere Früchte tragen sollte. Bei der Session in Paris waren auch Vincent Taeger (Percussion, Marimba), Vincent Taurelle (Keyboards) und Ludovic Bruni (Bass, Gitarre) dabei, zwischen all diesen Musikern entstand eine „unbestreitbare Verbindung durch Generationen, durch Kulturen, durch Erfahrungen“, sagt der Sänger. Eigentlich sollte dieses musikalische Stelldichein dann fortgesetzt werden (das „The Yaw“-Format will Yannis Philippakis auch künftig für die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern offen halten), doch erst kamen Terminkonflikte in die Quere, dann die Covid-Beschränkungen, schließlich Allens Tod. So bleibt es nun bei einer EP mit fünf Tracks: Lagos Paris London wird am 30. August veröffentlicht. „Es war eine bewegende Erfahrung, einige der Drum-Takes durchzugehen, denn diese Aufnahmen waren einige der letzten Musikstücke, an denen er je gearbeitet hat“, erzählt Yannis. „Diese Schlagzeugspuren haben etwas Unvergängliches, und man spürt die Kontinuität seines Lebens und seiner Energie durch sie hindurch.“ Das trifft auch auf die Single Walk Through Fire (****) zu, die ganz unmittelbar vom Blick aus dem Fenster inspiriert ist: Damals streikte in Paris zehn Tage lang die Müllabfuhr gegen eine geplante Aufweichung des 35-Stunden-Gesetzes und eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Das Stück lebt von seiner Atmosphäre voller Aufbegehren, Unordnung und Hektik, ebenso natürlich wie von der musikalischen Klasse, zu der Tony Allens Schlagzeug ebenso viel beiträgt wie Klavier, Gitarre und dieser immer etwas empörte Bariton, der auch die Songs von Foals so spannend macht.
Dass die Welt da draußen durchaus Anlass bietet, sich aufzuregen, haben auch Gurriers längst erkannt. „The album is a noisy, guitar driven odyssey of our disillusionment with the modern world“, sagen die fünf Iren über ihr Debüt Come And See, das am 13. September erscheinen wird. Die elf Songs behandeln beispielsweise Themen wie den Aufstieg der extremen Rechten, Social-Media-Auswüchse oder die notorische Unglaubwürdigkeit der Kirche. Die erste Single Close Call (***) besingt zu Sirenen-Sounds die vergessene und gelangweilte Jugend Dublins („Forced out of youth by violence“) und klingt dabei so giftig, wuchtig, plakativ und tanzbar, dass man etwa an The Enemy oder Kasabian denken kann. Dass die Musik von Dan Hoff (Gesang), Ben O’Neill (Gitarre und Gesang), Mark MacCormack (Gitarre), Pierce O’Callaghan (Schlagzeug) und Charlie McCarthy (Bass) dabei bereits so kraftvoll und ambitioniert klingt , liegt nicht nur daran, dass sie sich die legendären Debütalben beispielsweise von den Strokes, Arctic Monkeys und Chemical Brothers zum Vorbild genommen haben, sondern auch an Corona: Nach der Bandgründung 2020 in Dublin hatten Gurriers bedingt durch die Pandemie sehr, sehr, sehr viel Zeit, in Ruhe und ohne Publikum an ihren Songs zu arbeiten und ihre ersten Liveshows vorzubereiten. Im Herbst ist eine Deutschland-Tour geplant, am 20. Oktober kommen Gurriers auch ins Naumanns in Leipzig.