Bodenständigkeit ist schon immer ein wichtiges Element im Erfolg von Bosse. Er sieht nicht aus wie ein Popstar, er benimmt sich auch nicht so. Er singt keine Lieder über den Lifestyle der Reichen und Berühmten, und selbst bei seinem neunten Studioalbum (Übers Träumen erscheint am 27. Oktober) nimmt man ihm die Freude noch ab, dass er neue Musik machen darf, dass er auf Tour gehen kann (28 Konzerte sind bereits angekündigt) und für all das auch noch ein so großes und dankbares Publikum findet. Wie schon die erste Single Ein Traum handelt auch der zweite Vorab-Song vom Vermissen und sich irgendwie damit Arrangieren. Die Sehnsucht ist in Kreuzbergmädchen (***1/2) allgegenwärtig, die Szenerie ist wieder der Alltag, den wir alle kennen. Bosse fährt im Videoclip mit der S-Bahn, mit Rucksack und Basecap, nicht mit der Stretch-Limo oder einem Angeber-Sportwagen. Als Freizeitvergnügen gelten nicht Segeln oder Golf, sondern „an den See fahren“, den Abend lässt man nicht im Sternerestaurant ausklingen oder im Berghain, sondern in „Paules Metal Eck“, wie es im Text heißt. Dass man ihm all das als authentisch abnimmt, liegt in diesem Fall auch am für eine Bosse-Single recht ungewöhnlichen, sehr freigeistigen Sound. Die Kopfstimme ist teilweise sehr prominent und immer bereit, ihre eigene Brüchigkeit einzugestehen, das Trompetensolo überrascht, der Refrain verzichtet auf Reim. All das funktioniert, weil es offensichtlich so sehr gefühlt ist – und eben echt.
Schon als Vierjährige hat Blush Always mit dem Klavierspielen angefangen. Auf die Idee, ihr musikalisches Talent auch mit E-Gitarre und Rockband-Sound umzusetzen, kam die Leipziger Sängerin und Songschreiberin aber erst vor zwei Jahren. Einer der Menschen, die diese Idee sehr schnell sehr gut fanden, war Lennart Eicke, Gitarrist bei den Leoniden. Die Band aus Kiel unterstützte dann auch bei Arrangements und Produktion der 2022er EP Postpone, nun ist für 29. September das Debütalbum You Deserve Romance angekündigt. Den aus Sally Rooneys aktuellem Buch entlehnten Albumtitel erklärt Blush Always so: „Ich habe mich eine ganze Weile lang immer wieder auf merkwürdige, nicht unbedingt gesunde Beziehungen eingelassen. Durch die Lektüre dieses Buchs und weitere Analysen ist mir klar geworden, dass ein Grund für diese toxischen Beziehungen meine chronischen Selbstzweifel waren. Ich habe lange Zeit überhaupt nicht gedacht, dass ich mehr Zuneigung und Romantik als in diesen Beziehungen überhaupt verdient hätte.“ Das Thema klingt auch in der Single Coming Of Age (****) sehr deutlich an, etwa in Zeilen wie diesen „Taking turns in needing each other / sad and scared and dependant on partners.“ Die Musik dazu ist schnell vertraut und doch voller Überraschungen und Twists, der Sound vereint Grunge-Attitüde und Pop-Sensibilität, ein bisschen, als sei Heather Nova als Sängerin bei den Smashing Pumpkins eingestiegen. Für Anfang des nächsten Jahres ist eine Tournee in Planung. Man darf sich freuen.
Auch bei Tränen steht eine Künstlerin aus Leipzig im Zentrum. Gwen Dolyn (sonst Sängerin bei den Toyboys) hat sich dafür mit Steffen Israel (Gitarrist von Kraftklub) zusammengetan. Eigentlich war geplant, nur für eine Coverversion von Duell der Letzten (im Original von Chaos Z) zu kooperieren. Aus der gemeinsamen Neu-Interpretation wurde dann aber die Idee, die gemeinsam gefundene und sehr reizvolle Sound-Ästhetik auch für eigene Songs als richtiges Duo zu nutzen. Die erste Single Stures dummes Herz (****) zeigt, warum (nicht nur) die beiden Beteiligten selbst so angetan waren von ihrem Miteinander. Man kann da an Mia (Morgan) und MiA. (die mit Mieze) denken, der Song ist niedlich und drastisch zugleich, ein wenig, als würde Miley Cyrus auf Deutsch (und mit mehr lyrischem Talent) singen. Am 3. November veröffentlichen Tränen ihr erstes Album Haare eines Hundes.
Und noch einmal Leipzig: In der sächsischen Metropole und in Helsinki haben LSSNS ihre Schaltzentralen. Das Trio, bestehend aus Patrick Sudarski und den Brüdern Samu und Ville Kuukka, legt am 13. Oktober sein Debütalbum Transit vor. Der erste Vorgeschmack ist die Single Gemini (***), die man irgendwo zwischen David Bowie, Depeche Mode, OMD und Gary Numan platzieren könnte. Der Sound ist zwischendurch sehr zugänglich, am Ende etwas härter, in erster Linie rätselhaft – das passt zum Inhalt des Textes, über den LSSNS sagen: „Idealerweise funktionieren Texte gleichzeitig auf einer persönlichen und einer politischen Ebene. Das Stück erzählt von siamesischen Zwillinge und denkt ebenso über Partnerschaft nach wie über unser Bedürfnis, uns aufeinander verlassen zu können. Nicht ohne auch gleichzeitig die Schattenseiten zu betrachten. Und dabei nicht der Richter zu sein, sondern nur der Beobachter.“ Wer übrigens meint, im Clip zu Gemini diverse Leipziger Sehenswürdigkeiten wie den Uniriesen oder Hauptbahnhof zu erkennen, liegt falsch: Die Bilder stammen aus Helsinki. Sie wurden mit einer Video8-Kamera aufgenommen, dann mit einem analogen Videomixer bearbeitet und schließlich mit Digitaltechnik weiter verfeinert. Das hat bei LSSNS natürlich auch einen tieferen Sinn, wie sie betonen: „Wir haben das Alte mit dem Neuen kombiniert, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wo wir gerade sind.“
Über die Herkunft von Nikotin braucht man höchstens zwei Sekunden lang zu rätseln: Er singt mit breitem Schmäh „I am from Austria“, im Video zur Single 1010 (***1/2) hat der schillernde Bauunternehmer Richard Lugner einen Cameo-Auftritt und sein Manager hat früher einen gewissen Falco betreut. Die Parallelen zu Letzterem sind auch sonst überdeutlich: 1010 ist Pop (man kann tanzen und mitsingen) und Provokation (allein durch die Tatsache, dass hier Spaß, Party und Nachtleben so wunderbar glorifiziert werden). Das zeigt sehr clever und kurzweilig: Selbstüberhöhung und Selbstironie schließen sich keineswegs gegenseitig aus.
