Normalerweise schreibe ich eine Konzertkritik so schnell wie möglich nach der Show, am besten noch am selben Abend. Das Live-Erlebnis ist dann noch frisch, der leichte Taumel von lauter Musik, blendender Lichtshow und euphorisierter Menschenmenge noch präsent. Vielen Bands kann man so am besten gerecht werden.
Beim Auftritt von Die Höchste Eisenbahn in Leipzig ist das anders. Zum einen ist die Show im Täubchenthal für mich Teil eines ziemlich vollgepackten (und ziemlich feuchtfröhlichen) Samstags: Ich habe den aktuell zweitbesten schwedischen Fußballspieler live im Stadion erlebt, mit ein paar Bier davor und währenddessen. Ich habe Borussia gegen Borussia live in der besten Fußballkneipe der Stadt gesehen, und der Wirt hat mir (wie immer) Wodka aufgedrängt. Ich habe Freunde beim Konzert getroffen, mit denen man Gisela trinken muss. Und danach bei der folgenden Disco im Täubchenthal womöglich beinahe zu We Built This City On Rock And Roll getanzt, weil auch noch Gin Tonic im Spiel war.
Ich bin also ohnehin frühestens um 15 Uhr des Folgetags in der Lage, meine Eindrücke des Konzertgeschehens in einen Text zu packen. Zum anderen weiß ich auch insgesamt nicht recht (und das liegt nicht nur an BierWodkaGiselaGinTonic), wie ich diese Band packen soll. Francesco Wilking, Moritz Krämer, Felix Weigt und Max Schröder sind an diesem Abend, genau wie auf Platte, äußerst nett, aber zugleich sperrig. Sie sind engagiert, aber nicht agitatorisch. Sie sind cool, aber nicht glamourös. Wie bringt man das auf den Punkt?
Die Lösung ergibt sich erst am Abend, als im Ersten der Tatort von Clemens Meyer läuft. Thomas Schmauser spielt darin einen psychopathischen Serienkiller, der im Gespräch mit einem jungen Mädchen zugleich sehr sensibel sein kann. Er hat optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Sänger Francesco Wilking (zumindest bilde ich mir das nach der etwas verschwommenen Erinnerung ein). So wird klar: Die Höchste Eisenbahn können charmant sein, aber dahinter lauern Abgründe. Ihre Lieder sind kompliziert, aber trotzdem intuitiv verständlich. Sie sind sehr poetisch, aber die Schönheit ihrer Texte ist gespeist aus dem Leiden an der Welt. Sie möchten gemocht werden, aber sie wissen, wie schwer das ist, wenn man zugleich zu seinen Prinzipien steht.
Und natürlich macht genau das ihre Anziehungskraft aus, denn es gibt – in Leipzig (wo nach wenig plausiblen Recherchen der Band „gestern noch jemand abgestochen“ wurde) und anderswo – reichlich Menschen, denen es genauso geht. So schrullig dieses Quartett manchmal wirken kann, etwa wenn es in einer Ansage um Niederlagen in Band-internen Tennismatches geht, so zugänglich ist sie auch. Mit den Gisela-Freunden rätsele ich nach einer guten Stunde des Konzerts kurz, ob Die Höchste Eisenbahn vielleicht die deutschen Kakkmaddafakka sind, oder vielleicht sogar die deutschen Vampire Weekend.
Den meisten Menschen im Täubchenthal scheinen solche Parallelen egal zu sein. Sie genießen die Ausgelassenheit auf der Bühne, den enormen Charme in den Ansagen und wohl auch die Tatsache, dass Die Höchste Eisenbahn trotz Vorband an einem Samstagabend bereits vor 20 Uhr die Bühne betritt, damit alle trotz eines spektakulären Abends noch zu einer halbwegs vernünftigen Zeit nach Hause können. Besonders auffällig: Es gibt nicht den einen Hit, bei dem jeder sein Smartphone herausholt und mitfilmt, als Erinnerung oder für die Daheimgebliebenen, wie man das von so vielen anderen Konzerten kennt. Nicht einmal auf die Zugaben (Raus aufs Land, Lisbeth und Umsonst) trifft das zu. Stattdessen flackern immer mal wieder an unterschiedlichen Stellen des Saals die Smartphone-Bildschirme oder Blitzlichter auf, sodass klar wird: Jeder filmt hier sein ganz persönliches Lieblingslied, und diese Band hat Dutzende davon in ihrem Repertoire.
Unzufrieden hieß eines davon, auf ihrer zweiten EP. Nach dem Abend in Leipzig darf man sicher sein (und das würde eindeutig auch nach einem weniger berauschenden Vorprogramm gelten): So geht heute niemand nach Hause.