Tristan Brusch Am Wahn Review Kritik

Futter für die Ohren mit Tristan Brusch, Ilgen-Nur, Sufjan Stevens, Wild Nothing und Shabazz Palaces

Schon immer übt „richtige“ Musik eine große Anziehungskraft auf Pop-Acts aus. Paul McCartney hat ein Oratorium komponiert, Sting hat – nur von einer Laute begleitet – die Lieder des Renaissance-Komponisten John Dowland für eine Platte eingesungen, Billy Joel hat ein klassisches Klavieralbum aufgenommen und Elvis Costello macht regelmäßig Kammermusik mit dem Brodsky Quartet. In der Tat kann es verlockend erscheinen, sich dadurch zusätzliches Prestige, vielleicht auch ein neues Publikum und auf jeden Fall ein neues kreatives Betätigungsfeld zu verschaffen. Auch bei Tristan Brusch ist das nun zu beobachten. Für sein neues Album hat er 17 Stücke als Begleitung der Woyzeck-Inszenierung von Ersan Mondtag am Berliner Ensemble geschrieben, arrangiert und produziert. Das Theaterstück nach dem Drama von Georg Büchner hat am 23. September seine Premiere, bereits am Vortag erscheint die Platte mit der Woyzeck-Musik. Die Vorab-Single Ein Loch in die Natur (***) kommt daher mit einem (natürlich) theatralischen Sound irgendwo zwischen Jazz, Tom Waits, Brecht/Weill und Kaizers Orchestra. Das ist großspurig, exaltiert, interessant und durchaus passend zu vom Stück inspirierten Textzeilen wie „Ich bin ein wild Tier / Horn wie ein Stier / Ich schlag‘ ein Loch, ein Loch, ein Loch in die Natur.“ Der Künstler, der zuvor unter anderem mit Cro, Fatoni oder Mine musiziert hat, „wollte schon immer gerne mal am Theater arbeiten“, sagt er. „Zumal es keine Vorgaben gab. Ich konnte machen, was ich will. Das hat mich einfach total inspiriert, zumal es überhaupt nichts mit Popmusik zu tun haben musste. Eigentlich sollte die Musik rein instrumental werden, aber dem Regisseur gefielen die Lieder so gut, dass ich immer mehr schrieb – und plötzlich war ein ganzes Album da.“

Nicht in einem neuen Metier, aber auf einem anderen Kontinent hat sich Ilgen-Nur die Inspiration für ihr zweites Album It’s All Happening (erscheint am 13. Oktober) geholt. Nach dem Erfolg ihres 2019er Debüts Power Nap sollte sie 2020 einen Auftritt in Austin beim SXSW spielen, das kam aber Pandemie-bedingt nicht zustande. Trotzdem blieb die 1996 bei Stuttgart geborene Musikerin in den USA – und wollte am liebsten gar nicht mehr weg, als sie dann auch noch Kalifornien für sich entdeckte. 2022 kehrte sie mit einem Stipendium für drei Monate zurück und lebte in der Villa Aurora in Pacific Palisades. Dort hat sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hat, wie sie rückblickend sagt – und reichlich Songs geschrieben, die hörbar von ebenfalls dort angesiedelten Acts wie Joni Mitchell, Karen Dalton, Neil Young und Carole King beeinflusst sind. Das gilt auch für die neue Single Lookout Mountain (***), die wohl den Laurel Canyon besingt mit viel Sehnsucht im (ansonsten eher kryptischen) Text und einem etwas trägen, sehr in sich selbst ruhenden Sound, der durch ein paar überraschende Elemente wie die Surf-Gitarre und (womöglich) eine Harfe angereichert wird. Das hat mehr Atmosphäre als Spannung, aber das ist wohl ebenfalls ein typisches Folk-Rock-Kennzeichen. Aufgenommen hat Ilgen-Nur die Platte mit Produzent Jon Joseph (Medium Build, Mini Trees, The Undercover Dream Lovers) in dessen Studio in San Pedro – natürlich mit Blick auf den Hafen und die Lichter von Los Angeles.

Hold heißt die für 27. Oktober angekündigte neue Platte von Wild Nothing. Die wichtigsten Einflüsse dafür waren die neue Rolle in der Welt für Jack Tatum (der Mann hinter diesem Projekt ist gerade Vater geworden) und seine Erinnerungen an die Dance-Sounds von Orbital und den Chemical Brothers, die er als Kind so gerne gehört hat. Auf dem selbstproduzierten Album versucht der Künstler aus Virginia, seine Musik wieder mit seinem Körper zu verbinden und dadurch aus negativen Gedankenmustern auszubrechen, wie er sagt. Exemplarisch dafür steht die Single Headlights On (***) mit Gast-Gesang von Harriette Pilbeam (Hatchie). „Dieser Track war unglaublich kathartisch für mich“, sagt Tatum. „Es ist ein Song über eine Beziehung, die ihren brüchigsten Moment erreicht hat und immer noch versucht, auch nur das kleinste offene Fenster zu finden, das dich zu dieser Person zurückführen könnte. (…) Es ist ein treibender und hoffnungsvoller Track, der als Ventil dienen soll, aber die Düsternis, die den Song inspiriert hat, bleibt intakt.“ In der Tat ist das Lied eine erstaunlich tanzbare Ausprägung von Sinnkrise, Selbstfindung und Liebeskummer. Headlights On setzt auf große Sounds und viele Effekte, bleibt dabei aber trotzdem persönlich und individuell. So soll auch das Album insgesamt wirken, erläutert Tatum: „Es ist eine Platte, die sich mit existenziellen Themen beschäftigt, aber sich selbst nicht immer zu ernst nimmt. Es hat keine Angst vor Pop, aber hoffentlich auch keine Angst davor, seltsam zu sein. Es macht Spaß, wird traurig, verweilt in den ruhigen Momenten und umarmt die lauten. Ich tue das, was ich liebe, und bin dankbar dafür.“

In einer ganz ähnlichen Ausgangsposition wie Headlights On spielt sich auch So You Are Tired (***1/2) ab, die erste Single des neuen Albums von Sufjan Stevens. Zu zartem Klavier und einer gehauchten Stimme erzählt er mit großer Sensibilität in Text und Musik vom Ende einer Beziehung, das noch nicht formal beschlossen, aber zumindest von einer Seite bereits ausgesprochen und ohnehin unausweichlich ist. Das ist klanglich keine Revolution im Vergleich zu den Songs, die man aus der 25-jährigen Karriere dieses Musikers kennt. Trotzdem ist beeindruckend, wie einfühlsam er hier seine Erkenntnis deutlich macht: Zur (erwachsenen) Liebe gehört nicht, Zusammenbleiben, Selbstaufgabe und ewige Treue einzufordern, sondern Trauer zuzulassen, Verständnis aufzubringen und vielleicht einen Neustart anzubieten. Das Material für Javelin (das Album erscheint am 6. Oktober) hat Sufjan Stevens dabei fast komplett zu Hause eingespielt, unterstützt von Leuten aus seinem engen Freundeskreis wie Hannah Cohen (Harmoniegesang) und Bryce Dessner. Parallel zur Platte wird auch ein 48-seitiges Buch mit Kunst und zehn kurzen Essays aus der Feder von Sufjan Stevens erscheinen.

Mit der sieben Tracks umfassenden und selbst produzierten Mini-LP Robed In Rareness (kommt am 27. Oktober raus) wollen Shabazz Palaces „die Vergangenheit respektvoll betrachten, die sich ständig weiterentwickelnde Gegenwart begrüßen und den Blick fest in die Zukunft richten“, wie Mastermind Ishmael Butler sagt. Wie zutreffend das ist, zeigt die neue Single Binoculars zusammen mit Royce The Choice (****). Das Stück ist bedrohlich und innovativ, anziehend und verwirrend, smooth und trotzdem nicht entspannt. „All I wanna do / is feel free in my mind / all I wanna do / is grab hold of my time“, heißt es darin, und der Sound lässt wieder einmal erkennen, wie nah Shabazz Palaces diesem Ziel bereits sind. Als weitere Album-Gäste darf man sich auf Porter Ray aus Seattle, O Finess aus Colorado Springs, Geechi Suede (von Camp Lo) aus der Bronx und mit Lil Tracy auch auf Butlers Sohn freuen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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