Wenn man bei Album #10 angekommen ist, wie es nun bei Travis der Fall ist, hat man ein paar Optionen zum Umgang mit dem Jubiläum. Man kann die eigene Konstanz und Beharrlichkeit feiern. Man kann die runde Zahl zum Anlass nehmen, um sich neu zu erfinden. Oder man kann auf die eigenen Sternstunden und Hochphasen zurückblicken mit dem Versprechen: Wir sind kein bisschen weniger interessant geworden, für uns ist alles noch genauso spannend wie damals. Fran Healy (Gesang, Gitarre), Andy Dunlop (Gitarre), Dougie Payne (Bass) und Neil Primrose (Schlagzeug) machen für L.A. Times, das am 12. Juli erscheinen wird, ein bisschen von allem. „L.A. Times ist unser persönlichstes Album seit The Man Who. Damals gab es viel Wichtiges zu schreiben, mein Leben hatte sich grundlegend verändert. Ich war 22, als ich diese Songs schrieb. Sie waren meine Therapie. Über 20 Jahre später hat sich mein Leben erneut grundlegend verändert. Es gibt viel zu erzählen“, sagt der Frontmann, der seit zehn Jahren in Los Angeles lebt, wo das Material in seinem Studio am Rande der Skid Row gemeinsam mit Produzent Tony Hoffer (Air, Beck, Phoenix) auch aufgenommen wurde. Die neue Single Gaslight (****) zeigt, dass die Band, die sich einst an der Glasgow School of Art gegründet hatte, tatsächlich nichts von ihrem Appeal eingebüßt hat: Das Lied klingt wie ein Klassiker und gleichzeitig total nach Travis. Es gibt Bläser, einen Chor und das typische Miteinander von ansteckender Heiterkeit und tief verinnerlichter Melancholie. Fran Healy sagt über das Stück: „Vor einigen Wochen habe ich gelesen, dass ‚Gaslighting‘ das weltweit am häufigsten gesuchte Wort im Internet war. Wir leben in einer Zeit, in der unsere Realität von Vorgesetzten, Führungskräften, Freunden, Lehrern und Politikern verzerrt wird. Das ist wirklich überall zu beobachten. Gaslighter wollen dich kontrollieren. Sie sagen dir Dinge, die dein Selbstvertrauen untergraben und wollen dich dazu bringen, die Realität in Frage zu stellen, sodass du das Gefühl bekommst, verrückt zu werden.“ In solchen Zeiten sind ein paar Konstanten wie Travis selbst natürlich sehr willkommen.
Noch ein Stückchen weiter zurück blicken Eels. Das meint nicht nur, dass die Formation um Sänger/Songwriter E (Mark Oliver Everett) am 7. Juni mit Eels Time! bereits ihr 15. Studioalbum vorlegen wird, sondern es bezieht sich vor allem auf den Inhalt der Single Time (***1/2). Im Zentrum steht eine niedliche, unschuldige Gitarrenfigur, dazu gibt es dezente Streicher und die immer ein bisschen resigniert wirkende Stimme von E, zu dessen Reflexion rund um den Lauf der Zeit mittlerweile auch die Frage gehört, wie viel Zeit ihm selbst wohl noch bleiben wird in diesem Leben. Das gilt auch, weil er auf die eigene Familiengeschichte blickt und entsprechend im Video zu Time viele private Bilder aus dem Fotoalbum einbaut, etwa von seinem Vater Hugh Everett III, einem bedeutenden Physiker. Diese Beziehung hatte er schon in der preisgekrönten BBC-Doku Parallel Worlds, Parallel Lives thematisiert, zusätzlich ist nun auch sein eigener Sohn Archie zu sehen. „Wir haben versucht, das gesamte Leben von drei Menschen in einem 2:10 Minuten langen Video unterzubringen. Ich mag solche Herausforderungen“, sagt Mark Oliver Everett.
Die Antilopen Gang feiert in diesem Jahr ihr 15. Bandjubiläum, und zur Feier des Tages hauen Danger Dan, Koljah und Panik Panzer am 13. September das Doppelalbum Alles muss repariert werden raus. Es wird eine Hälfte HipHop und eine Hälfte Punkrock bieten. Die Vorliebe für Krach mit Gitarren hatten sie ja beispielsweise schon 2017 mit dem Bonusalbum Atombombe auf Deutschland durchblicken lassen, dass der sechste Longplayer des Trios gleich ein Doppelalbum wird, ist auch nicht komplett überraschend. Schließlich waren nach Abbruch Abbruch (2020) alle Mitglieder weitestgehend auf eigenen Pfaden unterwegs. Danger Dan hatte riesigen Erfolg mit sein Klavieralbum, Panik Panzer kümmerte sich um die Aufgaben beim Geldwäsche-Label und hat ein Buch geschrieben (Der beste Mensch der Welt), Koljah war unter anderem regelmäßig im Musikpodcast „Reflektor“ zu hören. Als sie dann im vergangenen Herbst erstmals wieder gemeinsam mehr Zeit im Studio verbrachten, sprudelten die Ideen, wie auch die Single Sympathie für meine Hater (***1/2) beweist. Der Track ist erstaunlich melodiös und zeigt direkt wieder viel von dem, was die Antilopen Gang ausmacht: viel Witz, große Lust auf Provokation und die feste Entschlossenheit, bloß niemals so spießig und spaßbefreit zu werden wie der von Merlin Sandmeyer (Die Discounter) gespielte Typ im Video.
Noch ziemlich am Beginn ihrer Karriere steht hingegen Cary aus Leipzig. Sie hat 2021 ihre erste Single veröffentlicht, danach die EP Dialog. Neben viel Lob und Anerkennung (unter anderem wurde sie von MDR Sputnik für den New Music Award nominiert) hat ihr das unter anderem Supportshows für Lina Maly und Raum27 (was sie besonders freuen dürfte, weil sie sich nach eigenen Angaben auf der Bühne am wohlsten fühlt), eine weitere EP Lauf auf neuem Label und zuletzt ein Feature mit Crystal F (im Track Einzelkampf) eingebracht. Jetzt folgt die neue Single Weißer Staub (***1/2), die typisch ist für ihren Sound: Man merkt, dass da Rap und RnB ein zentraler Teil der musikalischen Sozialisation sind, gleichzeitig gehen Horizont und Entdeckergeist bei Cary, die als Siebenjährige bereits ihr erstes Lied komponiert und später schnell eigene Beats produziert hat, weit darüber hinaus. Der Song, in dem sie das Ende einer Beziehung besingt, die im Rückblick so erscheint, als sei sie von Anfang an labil und ungesund gewesen, integriert beispielsweise Elemente aus Garage, Ambient, Trap und Drum’n’Bass. Das beweist eine große emotionale Intelligenz im Text und ein großes Talent für tolle Atmosphären im Sound.
Bei Pedro The Lion, wie sich David Bazan seit 2019 wieder nennt, werden Vergangenheit und Gegenwart auf dem neuen Album Santa Cruz (kommt am 7. Juni heraus) verschmolzen. Die Platte ist der dritte Teil eines geplanten Fünf-Album-Bogens, der mit Phoenix (2019) und Havasu (2022) begonnen hat. Auf Teil 3 blickt der Singer-Songwriter auf sein Leben im Alter von 13 bis 21, das von vielen Umzügen geprägt war und vom Entdecken der Musik als Trost und Ausdrucksmöglichkeit. Die erste Single Modesto (***1/2) ist nach einem Ort in Kalifornien benannt, der eine weitere Teilzeit-Heimat für den Teenager wurde. Man hört viel Wehmut heraus und Lust auf Gitarrenlärm; man kann den Weg wunderbar nachvollziehen vom Fan, der aufregende Musik im Walkman entdeckt, zum Künstler, der auf seinem 4-Spur-Gerät sein Talent entwickelt. „Von allen Stücken auf diesen Platten fällt mir kein anderes ein, bei dem ich wirklich meine eigene Handlungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht habe. Es war das erste Mal, dass ich wirklich die Wahl hatte, was ich tun wollte“, sagt Bazan. „In diesen sechs Monaten, in denen ich in Modesto lebte, wurde mir klar, dass ich keinen anderen Job machen wollte – ich wollte versuchen, Musik zu machen. Dieser Song fühlt sich definitiv wie die Startrampe für das Leben an, das ich gewählt habe.“
