Menschen jubeln bei einem Livekonzert

Rike van Kleef – „Billige Plätze“

Autor*in Rike van Kleef

Rike van Kleef Billige Plätze Review Kritik
Von „Access all areas“ kann für Frauen in der Musikbranche keine Rede sein.
Titel Billige Plätze. Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche
Verlag Ventil
Erscheinungsjahr 2025
Bewertung Foto oben: Rahul Pandit auf Pixabay

Egal, ob man auf Spotify-Aufrufe, Tour-Umsätze oder Grammy-Verleihungen schaut: Pop wird gerade von Frauen regiert. Taylor Swift, Billie Eilish oder Beyoncé prägen das Genre künstlerisch wie kommerziell. Dass Rike van Kleef gerade jetzt ein Buch veröffentlicht, das die Benachteiligung von FLINTA in der Musikbranche thematisiert und direkt im ersten Satz des ersten Kapitels die These aufstellt „Die Musikindustrie ist sexistisch“, mag da erstaunen. Zumal man von außen meinen könnte, dass gerade dieser Zweig der Unterhaltungsbranche so liberal, tolerant und woke ist, dass es dort keinesfalls noch etwas so Altmodisches wie patriarchale Strukturen geben dürfte. Und man obendrein beobachten kann, dass es zuletzt hierzulande sowohl viel mehr Acts (etwa Blond oder Badmomzjay) als auch etliche neue Netzwerke geschafft haben, die Sache des Female Empowerments in den Vordergrund zu rücken.

Es zeichnet Billige Plätze. Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche aus, dass die Autorin die Frage selbst thematisiert, ob es dieses Buch braucht. „Weil ich betroffen bin“, lautet eingangs einer ihrer Gründe, die zu einem klaren Ja als Antwort geführt haben. Dass während ihrer Arbeit an diesem Buch beispielsweise Till Lindemann, Sean Combs und mehr als 70 Künstler im Rahmen der Kampagne #Deutschrapmetoo mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert wurden, ist nur ein weiterer Beleg, der dieses Urteil bekräftigen muss.

Ausgangspunkt der Autorin, die lange Zeit selbst in der Livemusik-Branche gearbeitet hat, sind die Line-Ups von Festivals. Schon in ihrer Bachelor-Arbeit hatte sie 2022 herausgearbeitet, wie eklatant vor allem bei den deutschen Major-Events der Männerüberschuss auf den Bühnen ist. Daran hat sich wenig geändert. Sie sieht in dieser Diskrepanz die „Spitze des Eisbergs bei der Geschlechterungerechtigkeit“.

Billige Plätze weitet von dort aus den Blick auf die Branche insgesamt, auf Phänomene und Strukturen, vor und hinter der Bühne, in Plattenfirmen, Radiosendern oder Booking-Agenturen. Rike van Kleef nutzt ihr Netzwerk für viele erhellende Gespräche mit Menschen aus der Live- und Festivalindustrie. Diese Innenperspektive ist hoch interessant. Als Musikfan kann man hier erstens erfahren, wie Konzerte überhaupt zustande kommen, Einblicke etwa in die Hierarchie zwischen den verschiedenen beteiligten Gewerken mit unterschiedlichem Prestige (Stage, Tech, Merch) gewinnen oder die erstaunliche Ähnlichkeit im Aufgabenprofil einer Tourmanagerin und einer Mutter erkennen. Zweitens wird deutlich, an wie vielen Stellen es tatsächlich Benachteiligung von Frauen und anderen marginalisierten Geschlechtern gibt, bei den Künstlerinnen (Sichtbarkeit, Netzwerke), den Menschen im Hintergrund (Mansplaining, Buddy-Kultur) und auch im Publikum (Sicherheit, sanitäre Einrichtungen). Dass dieses Geschäft sexistisch ist, erscheint nach der Lektüre der rund 300 Seiten nicht mehr wie eine mutige These, sondern als gut fundierte Tatsache.

Dazu trägt auch bei, dass die Autorin neben ihren eigenen Datenerhebungen und den Inhalten aus ihren Interviews auf eine enorm breite Recherchebasis setzen kann. Sie zeigt zwar immer wieder auf, wo es Forschungslücken gibt beim Blick auf Gender-Gerechtigkeit oder Karrierewege in dieser Branche. Trotzdem schafft sie es, viel Expertise aus so unterschiedlichen Bereichen wie Rechtswissenschaft, Psychotherapie und Soziologie einzubinden. „Strukturelle Diskriminierungsmechanismen, die wir überall in der Gesellschaft finden, machen eben auch vor der als progressiv erachteten Musikbranche nicht halt“, lautet eine der daraus abgeleiteten Erkenntnisse.

Diese wissenschaftliche Faktenfülle und die umfangreiche Literaturrecherche treffen dabei auf eine sehr ordentliche Portion von Wertung und Aktivismus. Letztlich erweist sich dieses Miteinander von Objektivität und Empörung aber keineswegs als problematisch. Neben der schon erwähnten eigenen Betroffenheit hat Rike van Kleef noch einen weiteren Grund für diese Herangehensweise: „Ich wollte deutlich machen, dass hinter den Prozentzahlen reelle Konsequenzen, Emotionen, verhinderte Karrieren, psychische Belastungen und vieles mehr stehen. Konsequenzen, unter denen nicht nur das jeweilige Individuum leidet, sondern die uns auch als Gesellschaft schaden.“

Dieser Blick auf das große Bild, auf Strukturen und Rahmenbedingungen, ist eine ganz große Stärke des Buchs. Sätze wie „Es kann keine Chancengleichheit und Gendergerechtigkeit ohne angemessene Bezahlung und Förderung geben“ mögen wie Allgemeinplätze wirken, sie sind aber deshalb nicht weniger wahr. Ein weiterer Pluspunkt ist der unbedingte Wille zum Konstruktiven. Grund genug, deprimiert, konsterniert oder sarkastisch zu werden, bietet die Faktenlage („Wäre ich Pessimistin, würde ich das Handtuch schmeißen“, schreibt die Autorin an einer Stelle). Doch Billige Plätze erkennt auch an, dass ein (wenn auch langsamer) Wandel zu erkennen ist – und zeigt vor allem bewusst Lösungsmöglichkeiten auf, von kindergerechten Nightlinern über menstruationsgerechte Festival-Toiletten bis hin zu Kulturförderprogrammen, die 50/50-Line-Ups zur Bedingung machen. Das macht dieses Buch letztlich ebenso erhellend wie aufrüttelnd und ermutigend.

Bestes Zitat: „Die Musikindustrie blendet mit Glanz und Gloria nicht nur das Publikum, sondern häufig auch ihre Mitarbeiter*innen.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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