Michael Hurley – “The Time Of The Foxgloves”

Künstler*in Michael Hurley

Michael Hurley The Time Of The Foxgloves Review Kritik
Michael Hurley malt auch, unter anderem seine eigenen Albumhüllen.
Album The Time Of The Foxgloves
Label No Quarter
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

38,8 Jahre beträgt aktuell die durchschnittliche Lebensarbeitszeit in Deutschland. Michael Hurley kann über diesen Wert sicher nur lachen. Er hat bereits 1964 seine erste Platte (namens First Songs) veröffentlicht, ist also seit mittlerweile 57 Jahren als Folkmusik-Profi aktiv. Zur Verdeutlichung: Musiker wie Dr. Dre, Slash, Westbam oder Moby, die mittlerweile in ihren jeweils eigenen Genres als Altstars und Legenden zählen, waren damals noch nicht einmal geboren. Das gilt auch für Kurt Vile, Stephen Malkmus, Devendra Banhart oder Calexico-Gründer Joey Burns, die sich alle als große Fans von Michael Hurley bekannt haben, oder Cat Power und Cass McCombs, die in jüngerer Vergangenheit seine Lieder gecovert haben.

Als Hurley in den Folkclubs des Greenwich Village seine ersten musikalischen Gehversuche unternahm, war da auch ein gewisser Bob Dylan unterwegs. Bei einem seiner ersten großen Konzerte, dem Carnegie Hall Folk Festival 1965, teilte er sich die Bühne unter anderem mit Chuck Berry, Muddy Waters und Johnny Cash. Viel legendärer geht es also kaum.

Der Songwriter aus Bucks County, Pennsylvania, der nächste Woche 80 Jahre alt wird, veröffentlicht nun mit The Time Of The Foxgloves sein erstes neues Studioalbum seit zwölf Jahren. Aufgenommen wurde es im Sommer (wenn der Fingerhut blüht, daher der Albumtitel) in seiner neuen Wahlheimat Oregon. Die elf Songs zeigen, wie wenig er auf seinen Status als Grandseigneur angewiesen ist. Wer auf der Suche nach sehr ursprünglicher, warmherziger und freigeistiger Folkmusik ist, der wird hier schnell begeistert sein und womöglich entdecken, dass er 57 Jahre lang etwas verpasst hat.

Are You Here For The Festival eröffnet die Platte mit großer Lässigkeit und Souveränität, die zu dem Umstand passt, dass ihm dieses Lied bei der Gartenarbeit einfiel. Die Melodie ist umwerfend, die Start-Stopp-Methode sorgt für Spannung, dazu gibt es sehr schicke Streicher, die bei Michael Hurley niemals klingen wie eine besonders edle Garnitur, sondern seine Songs erden, weil es wirkt, als seien sie auf der Veranda gespielt, nicht im Opernhaus. The Time Of The Foxgloves bietet immer wieder solche Besonderheiten. So wird Se fue en la noche so etwas wie ein experimenteller Blues, Knocko The Monk erweist sich als sehr fantasievolles Gitarren-Instrumental, in Blondes And Redheads darf die Orgel den Song und sogar seinen Gesang dominieren.

Das unterscheidet seinen Stil auch von anderen Folk-Altmeistern wie beispielsweise dem geistesverwandten Bill Fay: Lieder wie das uralt wirkende Alabama (mit einem klasse Harmoniegesang mit Betsy Nicols), das wie selbstvergessene Love Is The Closest Thing nur mit Gesang und Gitarre oder Little Blue River (mit dem innigen Zusammenspiel seiner Stimme mit dem Gesang von Lindsay Clark) sind wunderhübsch, im Zweifel entscheidet sich Michael Hurley aber immer für das etwas Überraschende oder gar Abseitige.

So wird Beer, Ale And Wine eher verkatert als feuchtfröhlich, in Jacob’s Ladder hat die zweite Stimme (Josephine Foster) eine erstaunliche Unentschlossenheit und wird gerade dadurch so reizvoll. Auch die Bläser tragen dazu bei, dass dieses Lied so zerbrechlich und deshalb umso wertvoller wirkt. Seine Interpretation von Rob Kellers Boulevard wird zeitlos und klassisch, zugleich lebendig und einzigartig. Der Quasi-Titelsong Foxgloves als Abschluss des Albums zeigt die ganze Vielseitigkeit der Stimme von Michael Hurley, für den Text hätte indes ein einziges Wort gereicht, das dann auch tatsächlich eine zentrale Position darin einnimmt, nämlich “sorrow”.

So klingt Michael Hurleys Are You Here For The Festival.

Website von Michael Hurley.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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