Holy Wave

Corona-Musik 41 mit Holy Wave, David Ost, Itchy, Sarah Bugar und Die Zärtlichkeit

Sich mitten in einer Pandemie die Karten legen zu lassen, ist entweder verdammt mutig oder komplett bescheuert. Ryan Fuson, Sänger und Gitarrist bei Holy Wave aus Austin, Texas forderte das Schicksal aber auf diese Weise heraus. Er vereinbarte einen Termin beim Tarot und daraus ging der Name des neuen Albums der Band hervor, das am 4. August erscheinen wird: Five Of Cups. Die entsprechende Spielkarte im Tarot zeigt eine Figur, die auf drei Kelche am Boden blickt, deren Inhalt verschüttet wurde. Zwei weitere Kelche, die noch intakt sind, nimmt sie hingegen nicht wahr. Die Interpretation ist ziemlich naheliegend: Da sieht jemand lieber das Negative als das Positive, lieber die Fehler der Vergangenheit als die Chancen der Zukunft. “Ich war mir zu dieser Zeit wirklich sicher, dass die Musikwelt am Ende war, und es schien, als ob die Aggression im Internet und, nun ja, die Aggression im Allgemeinen auf einem Allzeithoch war”, sagt Fuson über diesen Moment. “Also war ich bereit, mit der Musik aufzuhören.” So weit kam es dann – siehe das neue Album – für ihn und seine Mitstreiter Joey Cook, Kyle Hager und Julian Ruiz doch nicht. Statt “abgestumpft und pessimistisch zu werden”, wie der Sänger es nennt, stürzten sich Holy Wave stattdessen in die Arbeit an neuem Material. Nach Happier gibt es nun mit der neuen Single Bog Song (***) einen zweiten Ausblick darauf, was dabei entstanden ist. Ryan Fuson beschreibt das Lied als “Bericht über eine Reise, die ich mit meinem Vater nach Idaho unternahm, als er einige Elchjäger führte. Ich war beeindruckt von der Landschaft und der Tierwelt, fühlte mich aber auch im Zwiespalt über den Grund unseres Aufenthalts in den Bergen. Ich saß im Dunkeln, bevor die Sonne aufging, und hielt in den Bergen und Hügeln Ausschau nach Elchen. Manchmal sah ich Scheinwerfer, die eine Bergstraße entlangfuhren, und ich fragte mich, was der Fahrer wohl vorhatte, und ob die Tiere in den Bergen jemals solche Scheinwerfer sahen und sich das Gleiche fragten.” Entsprechend verträumt und idyllisch klingt das Lied, zugleich erkennt man darin auch einen Moment des Zweifels: Im Reflektieren über das Bewusstsein und die Würde von Tieren scheinen hier auch ein paar ganz grundsätzliche Gewissheiten ins Wanken geraten zu sein, wie durch Corona auch.

Dass Jobs in der Gastronomie und bei körpernahen Dienstleistungen mit am meisten unter den Auwirkungen von Covid-19 gelitten haben, ist längt bekannt. Sarah Bugar hatte somit in den vergangenen Jahren gleich zwei Arschkarten gezogen, denn die Münchnerin ist gelernte Köchin und Friseurin. Als sie beide Berufe nicht mehr ausüben darf (und auch noch ihre Beziehung zerbricht), zieht sie sich in ihr Zimmer zurück und begegnet dieser denkbar großen Lebenskrise mit ihrer Gitarre. Die Ergebnisse sind so ermutigend, dass sie beschließt, sich völlig der Musik zu verschreiben, was im gerade erschienenen und passend betitelten Debütalbum New Beginnings gemündet ist. Die Single After All These Years (***1/2) lebt von ihrer besonderen Stimme, die wie gemacht ist für Intimität und Bekenntnis, aus zartem Gitarrenpicking und zurückhaltendem Chor entwickelt sich zudem ein beeindruckendes Finale. Wer eine Schnittmenge aus Boy und Giant Rooks sucht, ist hier genau richtig. Sarah Bugar hat zudem Jules Ahoi als Feature-Gast gewonnen, beide teilen die Erfahrung, die im Zentrum des Songs steht: einen geliebten Menschen zu verlieren, ohne sich von ihm verabschieden zu können. Auch das passt ja bestens zu den schmerzvollen Pandemie-Erfahrungen vieler Menschen.

„Für uns ist das Schreiben von neuen Songs, auch nach so vielen Alben, immer noch die beste Art, uns und unsere derzeitige Gefühlslage auszudrücken”, sagt auch Sibbi, Frontmann von Itchy. Das Trio, von Schulfreunden in Baden-Württemberg gegründet und bis 2017 als Itchy Poopzkid firmierend, ist mittlerweile beim neunten Studioalbum angekommen, Dive wird übermorgen erscheinen und zwölf Songs enthalten. Corona hat dabei deutliche Spuren hinterlassen, wie Sänger und Bassist Panzer erzählt: „Während der Pandemie hat sich wohl so einiges in uns aufgestaut. Im Studio und auf den Festivals haben wir so intensiv gespürt, wie unfassbar geil es nach wie vor ist, eine aus drei Freunden bestehende Band zu sein, die immer noch mit jeder Faser für das brennt, was sie tut. Dieser kleine Reminder, dass nichts davon selbstverständlich ist, hat irgendwie nochmal neue Energie freigelegt.” Prison Light (**) offenbart in der Tat viel Einsatz und Wucht, aber leider nicht ganz so viel Finesse und Originalität – und ganz offensichtlich hat Sibbi die Lockdown-Monate auch nicht genutzt, um seine englische Aussprache zu optimieren.

“Gewissermaßen ist die Gruppe ein Produkt der Pandemie”, schreibt ihre Plattenfirma über Die Zärtlichkeit. Denn die Gründungsmitglieder Andreas Fischer (Gesang) und Tobias Emmerich (Gitarre) fanden in den Corona-Monaten zusammen. Da es keine Möglichkeit gab, sofort live loszulegen, und auch kaum Anlass bestand, in eine im Abwärtsstrudel befindliche Musikszene hinein schnell ein paar erste Songs zu veröffentlichen, nutzten sie die Zeit bei wöchentliche Treffen in Köln, um ihren Sound ganz genau auszudefinieren. Das angestrebte Ideal war dabei britischer Jangle-Pop wie ihn The Smiths oder Orange Juice gemacht haben. Bassist Merlin Engelien und Schlagzeuger David Dasenbrook schlossen sich diesem Ziel an, nach der selbstbetitelten Debüt-EP im März 2020 und Die Zärtlichkeit II im November 2020 (okay, also doch ein paar Releases mitten in die Krise hinein), steht jetzt das Album Heimweh Meisterwerke an. Die Single Ein kurzer Weg (***1/2) klingt tatsächlich, als käme sie direkt aus Manchester anno 1986, auch gefühlige Landsleute wie Blumfeld oder Albrecht Schrader kann man darin erkennen. Zeilen wie „Und ich darf mich nicht verraten / ich träume hier von dir / und während ich hier träume / befreist du mich von mir”, passen dabei nicht nur perfekt zum Bandnamen von Die Zärtlichkeit, sondern feiern auch den Glauben an die Kraft der Liebe. Kann ja nicht schaden in Zeiten wie diesen.

So kann man die Corona-Zwangspause natürlich auch nutzen: David Ost, der aus einer süddeutschen Kleinstadt kommt, träumt schon seit Teenager-Tagen von einer Karriere als Musiker. Er spielt Schlagzeug, Gitarre und Klavier, sammelt Erfahrung in diversen Schulbands und zieht nach Hamburg, wo er sich auch am Schreiben und Produzieren eigener Songs versucht. Ganz oft hört er aber: Es gibt so viele da draußen, die durchstarten wollen, und auch ganz schön viele, die mehr Talent haben als du. Als dann die Pandemie für einen Ausnahmezustand sorgt und große Teile der musikalischen Konkurrenz auf Eis legt, sieht er die Chance, die entstehende Lücke zu füllen. Er spielt mehr als 80 Konzerte, arbeitet an Features mit Stu Larsen, Oska oder Catt und feilt an seinem Sound. Mit der Single Good Enough (***), zugleich Titelsong der im Sommer erscheinenden EP, will er allen zeigen, was er gelernt hat – und natürlich beweisen, dass er sehr wohl das Zeug dazu hat, sich im Musikgeschäft zu etablieren. Der Song wurde produziert von Jonas David, den David Ost bei einer seiner vielen Live-Shows 2022 kennen gelernt hat, nämlich beim Wonderest Festival in Ungarn. Zur Vita des Produzenten gehören (neben eigener Musik) Lieder für einen Film von Matthias Schweighöfer sowie diverse Jobs für Revolverheld und den Grand-Hotel-van-Cleef-Kosmos. Damit sind die klanglichen Koordinaten auch von David Ost ganz gut abgesteckt. Good Enough lebt von vielen schönen Elementen und der angenehmen Stimme von David Ost, trotz der heiteren Grundstimmung verkneift es sich zudem erfreulicherweise, zu plakativ zu werden. Dass man etwas vermisst, was wirklich zündet und/oder den Song tatsächlich rund machen würde, passt immerhin zum Inhalt: Das Lied handelt vom Gefühl der Unzulänglichkeit durch ständigen Vergleich mit der eigenen (analogen und digitalen) Umgebung.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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