Von Wegen Lisbeth – “Live in der Columbiahalle”

Künstler Von Wegen Lisbeth

Live in der Columbiahalle Von Wegen Lisbeth Review Kritik
18 Songs in 70 Minuten versammelt “Live in der Columbiahalle”.
Album Live in der Columbiahalle
Label Columbia
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Dieser Tweet des von mir sehr geschätzten André Herrmann enthält natürlich eine wichtige Wahrheit: Sucht man ein Synonym für „Studentenmusik“, ist das Quintett aus Berlin nicht mehr weit. Zugleich offenbart sich darin, dass Von Wegen Lisbeth ein Kunststück vollbracht haben, das in den hoch fragmentierten Zeiten des 21. Jahrhunderts nur noch sehr selten gelingt: Sie machen ein Angebot, auf das sich so viele Menschen einigen können, dass es beinahe prototypisch wirkt. Sie machen Lieder, in denen sich eine Generation wiederfinden kann, egal ob mit Mate oder Craftbeer, mit FSJ-Motivation oder im Schoße eines Familienunternehmens, das man einmal erben wird. Wie sie das schaffen, zeigt Live in der Columbiahalle sehr deutlich: Die 18 hier versammelten Lieder können funky und direkt sein, soft und heavy, gewitzt und albern. Vor allem aber sind es Lieder über das Jungsein: Kneipe statt Fernsehsessel, Flirt statt Beziehung, Fahrrad statt Familienvan, Praktikum statt Karriereleiter.

Ein Intro eröffnet die Show und klingt wie die Untermalung einer der harmloseren Szenen in einem Horrorfilm. Dann erklingt Wieso und zeigt schon ein paar der ultimativen Stärken von Von Wegen Lisbeth. Etwas Achtziger-Ästhetik, ein kleines Wortspiel und viel Charme reichen aus für einen ganz besonderen Song. Der Text ist durchaus bezeichnend für den Ansatz von Julian Hölting, Matthias Rohde, Robert Tischer, Dominik Zschäbitz und Julian Zschäbitz: Es geht darum, nicht den üblichen, naheliegenden, bequemen, vermeintlich verführerischen Pfaden zu folgen, denn dies könnte in der Katastrophe enden. Das setzen sie auch in ihrer Musik um, mit großer Lust auf Experimentieren, Anderssein, Risiken eingehen, um die Ecke denken. “Alles was wir machen, passiert mit ziemlich wenig Kalkül. Manchmal ist das vielleicht ein Nachteil, aber oft erweist sich das als genau die richtige Methode für uns”, hat mir Julian einmal im Interview erzählt, und das kann man hier als musikalisches Grundprinzip entdecken.

In den 18 vertretenen Songs fällt noch mehr die originelle, vielfältige Instrumentierung auf, zu der beispielsweise Glockenspiel, Bläser, Xylophon und Steel Drums gehören. Ohnehin bekommt Rhythmus in der Live-Inkarnation einen noch größeren Stellenwert: Bei Chérie mit einem Quasi-Afrobeat, in Freigetränke mit der Effektivität von NDW-Hits, im gefeierten Bitch immer noch mit einer großen Portion Übermut. Wenn du tanzt ist weiterhin ein unwiderstehlicher Hit, in der Live-Version wird allerdings umso deutlicher, mit was für ungewöhnlichen Mitteln die Band diesen gebaut hat.

Alles ist gut mitsingbar und noch besser tanzbar, erstaunlich schwach ausgeprägt ist hingegen die Interaktion mit dem Publikum. Es gibt auf Live in der Columbiahalle keine Begrüßung, keine Anfeuerung, kaum ein Dankeschön und auch keine besonderen Gimmicks wie Stargäste oder Pyro-Spektakel. Lediglich bei Alles was ich gerne hätte gibt es ein Anfänger-Mitklatschspiel zu Beginn (und reichlich Bläser-Soli am Ende), für 30 Segways, ein Ferrari wird dann die Fortgeschrittenen-Variante erprobt (und das Finale wird beinahe etwas psychedelisch). In Meine Kneipe können all die Trompeten, Saxofone und Posauenen nicht die Freude in den Schatten stellen, mit der die gut 3000 Menschen im Saal mitsingen, Sushi bleibt die einzige Zugabe und bekommt den lautesten Begrüßungsschrei.

Was bei Von Wegen Lisbeth die Verbindung zu den Fans schafft, ist die ultimative Verortung in der Gegenwart und damit in der gemeinsamen Lebenswelt von Band und Publikum. Die Wegweiser dafür sind nicht so sehr ein besonders zeitgenössischer Sound oder gar sogenannte Jugendsprache, sondern besonders gerne Produkte und mediale Phänomene: iPhone, Nike Air, Youtube, Alexa, Lebenslauf-Optimierungswahn, AfD, wiedererkannte W-Lan-Netze als Ersatzheimat, Social-Media-Selbstinszenierung oder Pseudo-Umweltengagement, das dann doch kaum das eigene, weiterhin hedonistische (Konsum-)Verhalten tangiert.

Gerade Letzteres, die Schizophrenie aus „Etwas verändern wollen an der Scheiße der Welt“ und „unentrinnbar Teil der Scheiße sein“, findet sich in diesen 70 Minuten immer wieder und macht wohl einen nicht geringen Teil des Appeals der Band aus. Westkreuz weiß um die eigenen Lebenslügen und schätzt auch das Privileg der Jugend, diese mit Leichtigkeit ertragen zu können. „Ich werde jede meiner Niederlagen / feierlich auf Händen tragen“, heißt es in Lisa bezeichnenderweise. Das reduzierte Am wenigsten zu sagen zeigt, wie viel emotionale Intelligenz man bei Von Wegen Lisbeth finden kann, Lieferandomann beweist, dass man Eifersucht auch originell und selbstironisch ausleben kann. Alexa, gib mir mein Geld zurück hat die Produkt- und Online-Fixierung schon im Titel, der Sprachassistent ist natürlich keine Hilfe für die wirklichen Tücken des Lebens, die Hoffnung „Ich dachte, endlich sagt mir jemand, wie es geht”, wird enttäuscht. Komm mal rüber bitte, das extrem verspielt und in der Strophe fast ein bisschen sperrig umgesetzt wird, behandelt ebenfalls diese Orientierungslosigkeit und Skepsis gegenüber den üblichen Lebensentwürfen, aber selbst das macht bei Von Wegen Lisbeth noch Spaß.

Das Livealbum, aufgezeichnet im November 2019, zeigt somit auch, dass Von Wegen Lisbeth in der jetzigen Form endlich sein müssen. Sie werden nicht ewig jung sein, und ihr Publikum auch nicht. Vielleicht ist so auch die Idee zu erklären, nach nur zwei Studioalben schon eine Liveplatte zu machen: Es ist ein Souvenir für die Fans der mehr als 30 Shows umfassenden Britz-California-Tour, aber auch für die Band selbst. Es ist der Beweis: So gut war es, so gut hat es funktioniert.

Wenn du tanzt x3500: Da darf auch ein Circle Pit dabei herauskommen.

Web

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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