Le Ren – “Leftovers”

Künstler*in Le Ren

Le Ren Leftovers Review Kritik
Sehr poetische Folksongs gibt es von Le Ren.
Album Leftovers
Label Secretly Canadian
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Lauren Spear redet nicht gerne über ihre Lieder. “Über das Songwriting zu sprechen, fühlt sich an, als würde jemand nach deinem Tattoo fragen”, sagt die 26-Jährige, die sich in Abwandlung ihres Vornamens Le Ren nennt. “Du hast kein Problem damit, es in der Öffentlichkeit zu zeigen, direkt auf deinem Arm. Aber wenn dich dann jemand fragt: ‘Hey, was bedeutet dieses Tattoo?’, bist du schockiert, dass du es erklären musst.”

Dabei wäre die Frage recht einfach zu beantworten, worum es auf dem Debütalbum der Künstlerin aus Montreal (dort kann man ihren Künstlernamen auch als “la reine = die Königin” begreifen, was sicherlich nicht unbeabsichtigt ist) geht: um die Liebe. Le Ren singt auf Leftovers über die Liebe in all ihren Formen, von familiär bis freundschaftlich, besonders gerne auch in ihrer körperlichen Ausprägung.

Natürlich kann man sich jetzt fragen: Wer braucht das? Noch mehr Lieder über Liebe, gesungen von einer Frau mit einer sehr klaren, hohen Stimme, zu Picking auf einer akustischen Gitarre (denn genau das bildet ihr musikalisches Fundament)? Le Ren, die im vergangenen Jahr die EP Morning & Melancholia veröffentlicht hatte, gibt auf dieser Platte ein paar sehr gute Antworten. Erstens reichert sie ihre Lieder, die im Kern Folksongs im Stile etwa von Joni Mitchel oder Laura Marling sind, in den genau richtigen Momenten immer wieder mit den perfekt passenden Klangtupfern in den Arrangements an, durch Bass, Banjo, eine zweite Stimme, Streicher, Pedal-Steel-Gitarre, Klavier oder Schlagzeug. Zweitens sind auf diesem von Chris Cohen produzierten Album ihre Texte immer wieder so gut, dass man in diesen über einen Zeitraum von vier Jahren entstandenen Songs tatsächlich noch ein oder zwei Dinge über die Liebe (oder zumindest ihre poetische Huldigung) lernen kann.

“Take on me / for I can show the way / we’ll meet one winter’s morning / to give what lovers take”, singt sie zum Auftakt in Take On Me, später wird dieser Wunsch nach (durchaus auch sexueller) Symbiose beispielsweise auch in Your Cup artikuliert, so sehr, dass man schließlich nicht mehr weiß, wo der eine Mensch anfängt und der andere aufhört. Who’s Going To Hold Me Next? feiert die Lust auf Affären nach ihren Bedingungen, die große, ewige Liebe wird hier nicht nur nicht ersehnt, sondern per se verworfen. Auch in Friends And Miracles erinnert Le Ren sich (und vor allem andere) an ihr Recht auf Unabhängigkeit.

“Wenn ich an Leftovers denke, denke ich an Dinge, die weggeworfen wurden”, sagt Le Ren. “Wenn man sie wieder aufhebt oder sich an sie erinnert, kann man sie wiederverwenden… Leftovers wurde zu einer Sammlung von Gefühlen und Momenten der Vergangenheit, die für meine Gegenwart immer noch relevant sind.” Vielleicht spielt sie damit auf Was I Not Enough? an, mit einem sehr klassischen Thema: Sie wurde verlassen, und es schmerzt noch immer. Der biografische Hintergrund ist bei Lauren Spear allerdings ein sehr spezieller: Vor zwei Jahren ist ihr damaliger Freund bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dieses Ereignis scheint auch in May Hard Times Pass Us By seine Spuren hinterlassen zu haben. Das Lied zeigt: Sie weiß, wie schnell und unerwartet das Schicksal zuschlagen kann, und auch daraus erwächst die Unbedingtheit ihrer Liebeserklärung mit den schönsten Versen des Albums: “There’ll come a time when I am many miles away / but know I’ll follow you as evening follows day / and when the sky, it breaks, I’ll raise my face to rain / and I’ll love you in the sunlight or the shade.”

Ungemein profitiert das Album, dessen Aufnahmen im April 2021 in einem gemieteten Haus in Portland, Oregon, begannen, auch von den Liedern, die andere Facetten von Liebe in den Blick nehmen. Die Single Dyan hat Le Ren ihrer Mutter gewidmet, einschließlich der rührenden Zeilen “If I could look into the center of the sun / I think I’d see her there”. I Already Love You wiederum ist offensichtlich an ein noch ungeborenes Kind gerichtet. Annabelle And Maryanne scheinen beste Freundinnen zu sein, die sich gegenseitig versichern “It’ s so much easier by your side”, umgesetzt wird das als ein Duett mit Tenci, deren herbe, tiefe Stimme einen sehr reizvollen Kontrast zum Gesang von Le Ren bildet. Und auch ein ganz klassiches Liebeslied bekommt hier viel Reiz und Tiefe, wie Willow demonstriert: Es geht hier um eine neue Beziehung, in der beide hoffentlich keinen erneuten Schmerz finden werden, sondern Trost, Hoffnung und Glück.

Schöne Schattenspiele gibt es im Video zu Dyan.

Website von Le Ren.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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