Leo Tolstoi – “Krieg und Frieden”

Autor Leo Tolstoi

"Krieg und Frieden" seziert eine Ära seziert die Ära politisch, philosophisch und historisch.
“Krieg und Frieden” seziert eine Ära seziert die Ära politisch, philosophisch und historisch.
Titel Krieg und Frieden
Verlag Bechtermünz
Erscheinungsjahr 1868
Bewertung

Eine Oper, ein Ballettstück, Verfilmungen aus mehreren Jahrzehnten mit Audrey Hepburn oder Woody Allen – die Adaptionen, die Krieg und Frieden außerhalb der literarischen Welt erfahren hat, zeigen vielleicht am besten, wie wirkungsmächtig dieses 1868/69 erschienene Werk ist.

Leo Tolstoi schafft es, Weltgeschichte als Dichtkunst zu verpacken. Er erzählt aus russischer Perspektive die Zeit von 1805 bis zum Scheitern von Napoleons Russlandfeldzug im Jahr 1812. Die sogenannte „Erste Abteilung“ des Buchs stellt die Figuren und Familienverhältnisse vor, in der „Zweiten Abteilung“ steht eher das Kriegsgeschehen im Vordergrund.

Zu Beginn des zweiten Teils tritt die Verwunderung hervor, aus der heraus der Autor gut 50 Jahre nach den Ereignissen schreibt: „Am 24. Juni überschritten die Heere Westeuropas die russische Grenze und der Krieg brach los, das heißt, es trat ein Ereignis ein, das dem menschlichen Verstand sowohl wie der menschlichen Natur durchaus zuwider ist. Millionen Menschen begannen sich gegenseitig so viel Böses zu tun – durch Betrug, Verrat, Diebstahl, Fälschung, Ausgabe falscher Banknoten, Plünderung, Brandstiftung und Mord -, dass die Akten aller Gerichte der Welt jahrhundertelang daran zu sammeln hätten, während die Menschen, die dies alles verübten, es in jener Zeit durchaus nicht als etwas Verbrecherisches ansahen.“

Napoleon ist dabei die über allem thronende Figur, seine militärischen Eroberungen kommen gleich im ersten Satz des Romans zur Sprache, und die Veränderungen, die sie für die politische Weltkarte und schließlich auch für Russland mit sich bringen, dringen nicht nur in die Nachrichten des Tages ein, sondern in die Gespräche, sogar die Gefühlswelt und Träume der Protagonisten. Eine neue Zeit steht vor der Tür, verkörpert von Napoleon, und keiner weiß, wie er mit ihr umgehen soll – das ist die Ausgangssituation von Krieg und Frieden.

Was Tolstoi daraus macht, ist auch nach fast anderthalb Jahrhunderten noch atemberaubend: Sein Buch seziert die Ära politisch, philosophisch und historisch, es wird Liebesgeschichte, Psychogramm, Reportage und Chronik. Manche Schilderungen des Geschehens wirken, als habe der Autor alle Detailinformationen hinein gepackt, derer er habhaft werden konnte. Zugleich ist es erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit er historische Figuren zu literarischen macht und wie er sich etwa in Napoleon hineindenkt und -fühlt. Das Werk hat zudem durchaus Humor zu bieten (Kostprobe: „Obgleich die Ärzte ihn behandelten, ihn zur Ader ließen und ihm Arzneien zu trinken gaben, wurde er doch gesund.“) und klingt in Passagen, in denen die Kampfhandlungen beschrieben werden, manchmal so unterhaltsam wie ein Abenteuerroman.

Was Tolstoi zeigen und vor allem verstehen will, ist der Zusammenhang zwischen (historischen) Persönlichkeiten und den Bewegungen der Völker, wie er selbst im Epilog darlegt. Was ihn bewegt, ist angesichts von Ereignissen wie der Schlacht von Borodino mit etwa 100.000 Toten die Frage, wie Menschen zu so etwas fähig sein können. Seine Antwort: Historisches Geschehen ist nicht rational, das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist viel komplexer und oft geradezu umgekehrt als es in der Geschichtswissenschaft seiner Zeit dargestellt wurde.

Die Kombination aus dem Blick für die menschlich-persönliche und die politisch-abstrakte Ebene führt schnurstracks in die Welt des russischen Adels, der Tolstoi selbst entstammt und in der der allergrößte Teil der Handlung spielt. Das Umfeld ist „die höchste Aristokratie Petersburgs“, wie es an einer Stelle heißt, „Leute verschiedensten Alters und Charakters, aber durch die Gesellschaft, in der sie lebten, gleichartig abgeschliffen“. Offiziell gibt es in diesem Milieu nichts, was einen guten Namen und exzellente Manieren aufwiegen könnte, aber mit beträchtlichem Reichtum oder außergewöhnlicher Schönheit kann man es zumindest versuchen.

Über Geld spricht man nicht in diesen Kreisen, Geld hat man. Die Figuren in Krieg und Frieden sind deshalb bevorzugt Müßiggänger und Melancholiker. „Sie weinten, weil sie befreundet waren, weil sie beide gut waren, weil sie Jugendfreundinnen waren und vor allem, weil sie sich mit einem so gemeinen Gegenstande, wie es Geld ist, beschäftigen mussten; vielleicht weinten sie auch um die verschwundene Jugendzeit… aber beider Tränen waren angenehm“, lautet eine typische Stelle, die beide Aspekte zusammenbringt.

Die Empathiefähigkeit, die aus diesem Zitat spricht, ist ein zentraler Bestandteil von Krieg und Frieden, denn sie sorgt dafür, dass man innerhalb des riesigen Ensembles (selbst wenn man nur die Personen zählt, denen wenigstens ein paar Sätze gewidmet werden, kommt man auf rund 250 Figuren) nicht den Überblick verliert. Tolstoi, der sieben Jahre lang an diesem Buch gearbeitet hat und 34 Jahre alt war, als er damit begann, findet noch eine weitere Methode, um die Herrschaft über seinen Stoff zu bewahren: Er erzählt maximal auktorial. Er kennt die Tagebücher seiner Figuren sowie militärische Befehle und Flugblätter, er versetzt sich in Befehlshaber genauso hinein wie in die Dienerschaft oder in ein kleines Mädchen, das auf einem Ofen in einem Bauernhaus zufällig Zeuge eines Kriegsrats wird. Seine Recherche, seine historiographischen und philosophischen Gedanken sind Beweis seiner intellektuellen Größe, aber Krieg und Frieden ist auch ein Beleg seiner vielleicht noch größeren Empfindsamkeit. Tolstoi sei „zu allererst ein Mensch, ein menschheitlicher Mensch“, hat Maxim Gorki einmal über ihn gesagt, und Krieg und Frieden bestätigt das höchst eindrucksvoll.

Über den gesamten Zeitraum der erzählten Zeit stehen zwei Akteure im Zentrum des Romans: Fürst Andrej Bolkonskij ist ein junger Mann aus gutem Haus, der im Militär Karriere machen will. Er ist ein Patriot, aber auch durchaus beeindruckt vom Siegeszug Napoleons. „Während er auf der einen Seite fürchtete, dass Bonapartes Genie möglicherweise stärker sein könnte als die Tapferkeit der russischen Armee, war es ihm auf der andern unmöglich, seinem Helden die Schmach einer Niederlage zu wünschen“, fasst Tolstoi dessen Zwiespalt zusammen. Die zweite Hauptfigur ist Pierre Besuchov, der uneheliche Sohn eines Fürsten, der später allerdings dessen Vermögen erbt und in höchsten Kreisen verkehrt, ohne einen Halt im Leben zu finden. „Pierre hatte jetzt nicht mehr, wie einst, unter Stunden den Verzweiflung, der Unzufriedenheit, des Ekels am Leben zu leiden; aber diese Krankheit, die ehemals in heftigen Anfällen zum Ausbruch kam, war jetzt mehr nach innen getreten und verließ ihn jetzt keinen Augenblick mehr“, schildert Tolstoi sein Gemüt.

Es ist dieses Gefühl des Verlorenseins, das den Sound von Krieg und Frieden prägt und oft auch bis hin zu Fatalismus und Defätismus reicht. Der Adel hat jahrhundertelang existiert, ohne seine Existenz rechtfertigen zu müssen – nun stehen die feinen Damen und noch mehr die feinen Herren vor der Herausforderung, Widerständen zu begegnen und ihren Platz in der Welt durch Taten, nicht durch Herkunft zu untermauern. Das führt in religiösen Wahn (wie bei Maria, Andrejs Schwester), zu existenzieller Bedrückung (Pierre) oder zu notorischem Wankelmut (Andrej). Gleich mehrfach gibt es in diesem Roman einen Tag, eine Stunde, einen Moment, in dem sich das Schicksal entscheiden muss, wie die Figuren meinen – das passive Warten darauf ist die übliche Reaktion, nicht das aktive Eingreifen.

Niemand in diesen Kreisen übernimmt wirklich Verantwortung für sein Leben, macht dieses Buch deutlich, und man darf das gerne als politischen Appell an den russischen Adel verstehen, den Tolstoi als sein Publikum betrachtet hat. Als Pierre die wichtigen Tugenden des Lebens aufzählt, preist er den Gehorsam, also die Abwesenheit selbständigen Denkens. „Der Gehorsam erschien ihm nicht einmal wie eine Tugend, sondern wie ein Glück. (Er war froh darüber, von seiner Unabhängigkeit befreit zu werden und seinen Willen demjenigen und denjenigen zu unterwerfen, welche die unzweifelhafte Wahrheit kannten.)“, schreibt Tolstoi. Letztlich scheuen seine Figuren damit nicht nur Verantwortung, sondern sogar Individualität.

„Der Mensch lebt bewusst nur für sich selbst, ist aber unbewusst zugleich ein Werkzeug zur Erfüllung der geschichtlichen, allgemeinen Ziele. Die vollbrachte Tat ist nicht wieder zurückzunehmen, und ihre Wirkung, die in der Zeit mit Millionen Handlungen anderer Menschen zusammenfällt, bekommt eine historische Bedeutung. Je höher der Mensch auf der gesellschaftlichen Stufenleiter steht, mit je einflussreicheren Menschen er verbunden ist, je mehr Gewalt er über andere ausübt, um so unverkennbarer ist die Vorausbestimmung und Unvermeidlichkeit jeder seiner Handlungen“, heißt es an einer anderen Stelle. Auch hier erscheint das Schicksal als übermächtig, und zwar für alle. Daneben gibt es zwar eine Individualität, die mit Blick auf das Gesamtwirken aber winzig ist, selbst für die Mächtigsten.

Auch der Dienst im Militär, letztlich auch der Krieg selbst, erscheinen deshalb in diesem Buch wie Flucht vor der Welt. „Nachdem er sich bei dem Regimentskommandeur gemeldet hatte, derselben Schwadron wieder zugeteilt war, du jour gehabt und fouragiert hatte, nach und nach in alle kleinen Interessen des Regiments wieder eingeweiht wurde, und nachdem er sich seiner Freiheit beraubt und einem engen, unverrückbaren Rahmen eingefügt fühlte, empfand Rostow dieselbe Beruhigung, hatte er dasselbe Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit wie unter dem elterlichen Dache“, heißt es passend dazu über den späteren Schwager Pierres. „Da war nicht das Gewirr der weiten, freien Welt, in dem er entweder keinen Platz für sich fand oder sich in der Wahl vergriff. (…) Hier im Regimente war alles klar und einfach.“

Es überrascht nicht, dass der Krieg in diesem Buch bis auf wenige Ausnahmen (etwa die Szene der Bombardierung von Smolensk) nicht grausam, gnadenlos und barbarisch ist, sondern beinahe beschaulich wirkt, wie ein Strategiespiel, in dem es allerdings nicht ums Gewinnen oder Überleben geht, sondern um Tapferkeit und Stil. Das gilt vor allem für den ersten Teil von Krieg und Frieden: Ein großer Teil ist nicht Kampf, sondern Warten auf den Kampf, die Schlacht, die Bewährungsprobe. „Es ist da, es beginnt, das schreckliche, lustige Waffenspiel“, heißt es an einer Stelle, erneut denkbar harmlos, als sich die Erwartung der Soldaten auf ein Gefecht endlich erfüllt.

Folgt man den im Roman beschriebenen Debatten in den Salons in Petersburg und Moskau, wird deutlich: Schlachten werden hier nicht geschlagen, um sich zu verteidigen oder seine strategische Position zu verbessern, sondern anscheinend nur, damit man etwas zum Tratschen und Angeben hat. Alle prahlen, lügen, biegen sich das Geschehen und ihre eigene Rolle darin nach Belieben zurecht – denn der entscheidende militärische Wert der Zeit heißt nicht Sieg, sondern Tapferkeit, macht Tolstoi deutlich: „Die Russen, deren Hälfte starb, taten alles, was man tun konnte, und was man tun musste, um ein der Nation würdiges Ziel zu erreichen; sie sind nicht schuld daran, dass die anderen Russen, die in ihren warmen Stuben saßen, Vorschläge machten, die nicht auszuführen waren.“

Der Glaube an den eigenen Mut, die Ehre und die Unbesiegbarkeit ist in dieser Zeit allerdings noch nicht der Glaube an die Nation (jedenfalls nicht auf Seiten der Russen), sondern der Glaube an die Aristokratie. Wenn Andrej in die Schlacht reitet, ist er überzeugt, dass sein Adel ihn beschützen wird oder dass der Tod im Kampf ihn zusätzlich adeln wird.

Er glaubt, ebenso wie die anderen Offiziere, an das System und die Idee des Gottesgnadentums. Wunderbar deutlich wird das, als Rostow, ebenso wie Andrej ein glühender Verehrer des Zaren, am Tag eines Gefechts zwar nicht an die Front darf, aber stattdessen den Monarchen zu Gesicht bekommt. Er „dachte nicht mehr an sich selbst, war ganz von der glückseligen Empfindung erfüllt, welche die Nähe des Kaisers in ihm hervorrief, und sagte sich selbst, dass ihn diese Nähe für den Verlust des heutigen Tages vollständig entschädigte. Er war glücklich wie ein Verliebter, der endlich das ersehnte Stelldichein erwarten darf. Sich umzusehen, wagte er nicht, aber ein Gefühl des Entzückens sagte ihm, dass sich der Kaiser näherte. Er hörte das nicht nur an dem Hufschlag der nahenden Kavalkade, sondern empfand, dass alles ringsumher heller, glänzender, festlicher wurde, je näher sie herankam.“

Unterwandert wird diese Hingabe von der Erkenntnis, dass edles Blut keineswegs zwangsläufig militärische Begabung mit sich bringt. Ausführlich geht Tolstoi auf die Eitelkeiten, Intrigen und Fahrlässigkeit der Generäle ein. „Ist es möglich“, muss sich Andrej an einer Stelle fragen, „dass Hofinteressen und persönliche Rücksichten es so weit bringen können, dass das Leben vieler Tausende und darunter auch das meinige, ja das meinige aufs Spiel gesetzt wird?“ Opferbereitschaft kann im modernen Krieg die Defizite von Ausrüstung, Führung und Taktik nicht wettmachen, lautet Tolstois Erkenntnis, auch hierin steckt die Warnung, dass Tradition und ein hohes Selbstbild nichts wert sind, wenn sie keinen empirischen Gegenwert haben.

Noch stärker denn als Chronik muss Krieg und Frieden deshalb als historisches Lehrstück betrachtet werden. Das gilt zum einen für die politischen Schlussfolgerungen aus den Kriegen gegen Napoleon, beispielsweise hinsichtlich nötiger Reformen in Militär, Landwirtschaft und Bildungswesen, die in diesem Roman mehr als nur angedeutet werden. Es gilt aber zum anderen auch für die Geschichtsschreibung selbst. Immer wieder betont Tolstoi hier das Systemische (auch wenn es bei ihm schnell zum Schicksalhaften wird). Beim Blick auf die Schlacht von Austerlitz gebraucht er explizit das Bild vom Uhrwerk, „das Ergebnis aller zusammenhängenden Bewegungen dieser 160.000 Mann Russen und Franzosen, das Ergebnis aller Leidenschaften, Wünsche, Skrupel, Demütigungen, Leiden, Regungen des Stolzes, der Furcht, der Begeisterung dieser Menschenmenge“ hat in seinem Verständnis gleichsam zwangsläufig die „langsame Fortbewegung des weltgeschichtlichen Zeigers auf dem Ziffernblatt der Menschheitsgeschichte“ zur Folge gehabt.

Rund 100 Jahre bevor jemand wie Hans-Ulrich Wehler in Deutschland die Abkehr von der Personengeschichte propagiert hat, wirkt das einerseits erstaunlich modern, andererseits irritieren die Geringschätzung der Individualität und das Leugnen von Entscheidungsspielräumen: „Jeder Mensch lebt sein eigenes Leben, gebraucht seine Freiheit, um persönliche Ziele zu erreichen, und fühlt mit seinem ganzen Wesen, dass er im Augenblick diese oder jene Tat vollbringen oder unterlassen kann. Aber sobald er sie vollbracht hat, wird diese in einem bestimmten Augenblick vollzogene Tat etwas Unumstößliches, wird sie Eigentum der Geschichte, in der sie keine freie, sondern eine vorher bestimmte Wirkung hat“, schreibt Tolstoi.

Natürlich ist es das Wissen um den Ersten Weltkrieg („Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre 1914 die scharfen, durchdringenden Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären“, hat Thomas Mann einmal im Gedenken an Tolstoi gesagt) und erst recht um das Dritte Reich, das uns heute bei solchen Sätzen schaudern lässt, ebenso wie bei diesem Blick auf die Militärs: „Sie fürchteten sich, prahlten, freuten sich, waren unzufrieden, glaubten zu wissen, was sie taten, und glaubten, nach freiem Ermessen zu handeln. Aber sie alle waren die willenlosen Werkzeuge der Geschichte und vollbrachten eine ihnen selbst verborgene, uns aber verständliche Aufgabe. Das ist das unabänderliche Schicksal aller Männer der Tat. Je höher sie in der Rangstufe der menschlichen Gesellschaft stehen, desto unfreier sind sie.“

Dass es einen Schrecken geben könnte, für den es Verantwortung und Verantwortliche geben muss, den man nicht mehr als ärgerliche Folge der Selbstüberschätzung eitler Männer abtun oder dem geheimnisvollen Wirken der Geschichte ankreiden konnte, dass sich historisches Geschehen abspielen kann, das auch im Rückblick nicht als sinnvoll oder als Läuterung erscheint, sondern Barbarei bleibt, das konnte sich Tolstoi freilich nicht vorstellen. Zugleich ist sein steter Verweis auf das Schicksal, auf Strukturen, Systeme und Mechanismen sicher auch ein Versuch, das Individuum mit seiner eigenen Unzulänglichkeit zu versöhnen. Es ist in gewisser Weise eine Kapitulation vor dem Widerspruch zwischen moralischer Verpflichtung des Menschen und grausamer Realität seiner Taten. Tolstoi, von Gustave Flaubert im Jahr 1880 nach der Lektüre von Krieg und Frieden als „der Meister aller Meister, ein allwissender Shakespeare“ gepriesen, wusste sehr wohl darum, dass der Mensch reichlich Schwächen hat und an ihnen leidet. Er ist Pierre ebenso wie Andrej – sein Leben zeugt davon.

Bestes Zitat: „Sobald man annimmt, dass das menschliche Leben von der Vernunft regiert werden kann, ist die Möglichkeit des Lebens vernichtet.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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2 Gedanken zu “Leo Tolstoi – “Krieg und Frieden”

  1. Wäre es möglich noch Seitenzahlen anzugeben? Besonders Für das Zitat „Der Mensch lebt bewusst nur für sich selbst, ist aber unbewusst zugleich ein Werkzeug zur Erfüllung der geschichtlichen, allgemeinen Ziele. Die vollbrachte Tat ist nicht wieder zurückzunehmen, und ihre Wirkung, die in der Zeit mit Millionen Handlungen anderer Menschen zusammenfällt, bekommt eine historische Bedeutung. Je höher der Mensch auf der gesellschaftlichen Stufenleiter steht, mit je einflussreicheren Menschen er verbunden ist, je mehr Gewalt er über andere ausübt, um so unverkennbarer ist die Vorausbestimmung und Unvermeidlichkeit jeder seiner Handlungen“?

  2. Hallo Ralph,

    danke für deinen Kommentar und die Frage. Die Seitenzahl für dieses Zitat habe ich leider nicht mehr parat. Da die Rezensionen ja auch keine wissenschaftlichen Texte sind, verzichte ich grundsätzlich auf Fußnoten. Sorry.

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