Blackmail – “1997 – 2013. Best Of & Rare Tracks”

Künstler Blackmail

Blackmail 1997 - 2013 - Best Of & Rare Tracks Review Kritik
“1997 – 2013 – Best Of & Rare Tracks” zeigt die Entwicklung und Bedeutung von Blackmail.
Album 1997 – 2013. Best Of & Rare Tracks
Label Unter Schafen Records
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

„Pink Floyd, Nirvana, die Beatles und Air (!) sitzen in einem Zugabteil und spielen stille Post. Übrig bleibt, als Essenz quasi, Blackmail.“ Das schrieb Patrick Großmann im März 2001 in Visions zum Erscheinen von Bliss Please, dem dritten Album von Blackmail aus Koblenz. Die Platte lieferte aus seiner Sicht zugleich den Anlass, dass „wieder die halbe Musikszene des Landes in Richtung Eifel linsen und ungläubig mit den Köpfen wackeln wird…“ Heute, wo die 1994 gegründete und weiterhin aktive Band als Institution gefeiert wird, erscheint das vielleicht wenig spektakulär. Aus der Perspektive zu Beginn des Jahrtausends stecken in diesen beiden Zitaten aber gleich drei kleine Sensationen, die wichtige Aspekte für das Verständnis der Wirkung dieser Band um Sänger Aydo Abay und die Ebelhäuser-Brüder Kurt und Carlos erhellen.

Erstens: Ein Stadt wie Koblenz hätte wohl niemand auf der Rechnung gehabt als Geburtsort der „vielleicht besten Alternative-Band, die Deutschland je hatte“, wie es im Presseinfo zur Werkschau 1997-2013. Best Of & Rare Tracks heißt. Die enorme Produktivität von Blackmail (und assoziierten Bands wie Scumbucket, Ken, Dazerdoreal, später Crash:Conspiracy und Abay) hat aber wohl auch damit zu tun, dass man in Koblenz wahrscheinlich kaum etwas Spannenderes, Erfüllenderes oder Spekatkuläreres machen kann als mit den Kumpels einfach immer weiter zu musizieren, wenn man sich einmal gefunden hat.

Zweitens: Dass die deutsche Musikszene sich überhaupt an Acts aus dem eigenen Land orientierte – zumal in der Rockmusik – war ein ziemlich neues Phänomen. Das hat mit dem Selbstvertrauen von Blackmail zu tun (Kurt Ebelhäuser: „Sich einmal so an einer eigenen Platte zu ergötzen, dass man vor sich selbst einfach nur noch auf die Knie fällt – das ist und bleibt unser großer Traum.“), aber auch damit, dass beispielsweise mit Viva, Viva zwei und Visions ein Forum geschaffen war, in dem diese Band ein größeres Publikum finden konnte. Bezeichnenderweise war es eine Kontaktanzeige in eben jenem Magazin, das die erste Besetzung von Blackmail zusammenführte, auch danach blieb die Zeitschrift eine wichtige Plattform für die Band und ihre Fans. In der Leser-Umfrage zum genannten Jahr 2001 wählten 0,5 Prozent der Visions-Leser Blackmail zum „Geheimtipp des Jahres“, damit rangierten sie immerhin vor The Hives und den White Stripes. Sie setzten die Koblenzer zugleich auf Platz 20 in der Liste der Bands des Jahres, die damals von System Of A Down angeführt wurde. Das Album Bliss Please schaffte es in der Jahresbestenliste auf Platz 11, der Song Same Sane auf Platz 22. Schon ein knappes Jahr zuvor hatte Autor Andreas Kohl in der Visions beim Blick auf Blackmail, die damals gerade erst die beiden Alben Blackmail (1997) und Science Fiction (1999) vorzuweisen hatten, gefragt: „Warum zum Teufel sind die nicht längst Superstars?“

Drittens: Im eingangs beschriebenen Zugabteil sitzen englische, amerikanische und französische Künstler – und zwar durchweg solche, die absolute Aushängeschilder ihrer jeweiliges Genres sind. Darunter macht man es offensichtlich nicht mehr, und es gilt auch nicht als Anmaßung für eine deutsche Band, solche Referenzen heranzuziehen und sie zugleich als Messlatte für das eigene Schaffen zu betrachten. Die lange gültige Formel, dass Gitarrenmusik aus Deutschland minderwertig, peinlich oder bestensfalls brauchbar von internationalen Vorbildern kopiert ist, haben Blackmail einfach ignoriert. Sie kamen damit durch, auch durch ein strenges Indie-Ethos mit einer ausgeprägten Skepsis gegen Kommerz, selbst dann noch, als in den Nullerjahren dezente Charts-Erfolge und Präsenz im Musikfernsehen hinzu kamen. Es gibt bei dieser Band fast nichts von der Stange: keine großen Studios, keine Standard-Effektgeräte, keine gewöhnlichen Songstrukturen. Die kreative Neugier dieser Musiker hatte nicht nur die vielen Nebenprojekte zufolge, sondern auch Ausflüge gen Remix, Soundtrack und Hörspiel.

Höchste Zeit also, dass Blackmail eine Retrospektive gewidmet wird. 1997 – 2013. Best Of & Rare Tracks ist zweigeteilt und wurde in Zusammenarbeit mit der Band kompiliert. Teil 1 enthält einige Hits und Klassiker, Teil 2 versammelt Raritäten wie Cover-Versionen oder B-Seiten, die teilweise erstmals auf Vinyl erscheinen. Parallel zur Werkschau werden die Alben Bliss, Please (2001) und Friend Or Foe? (2003) neu veröffentlicht, sowohl digital als auch auf Vinyl.

When I Start Today eröffnet den ersten Teil krachig und dreckig, danach zeigt Gone Too Soon Too Far, dass Blackmail sowohl gefühl- als auch kraftvoll sein können. In Evon vereinen sie plakativ und sperrig, zum Abschluss des ersten Teils ist Impact sowohl wuchtig als auch theatralisch. Das Schlagzeug von Mario Matthias in It Could Be Yours ist auf Krawall aus, im schwungvollen Everyone Safe gibt der Bass von Carlos Ebelhäuser den Ton an. Ken I Die ist ein klasse Beispiel für die atmosphärische Stärke dieser Musik, Moonpigs wird auch deshalb ein Hit, weil hier der Gesang (nicht nur im Call-and-Response mit dem Chor) so prominent ist. Deborah zeigt, dass Blackmail problemlos einen sehr amerikanischen Weltschmerz heraufbeschwören können, wie ihn auch Placebo (ebenfalls keine Amis) gerne ausleben.

Teil 1 von 1997 – 2013. Best Of & Rare Tracks zeigt schon die Bandbreite, die sich Blackmail innerhalb ihrer Laufbahn erschlossen haben. Same Sane hat nicht nur viel Drive, sondern integriert auch ein spannendes Synthie-Solo. It’s Always A Fuse (To) Live At Full Blast überrascht mit Streichern, (Feel It) Day By Day entwickelt sich zu einem Epos. Unverkennbar ist hier der Anspruch, nicht nur etwas Eigenes zu erschaffen, sondern etwas Ultimatives. Kurt Ebelhäuser hat einmal gesagt: „Für uns alle, und da spreche ich auch für die anderen, ist es das Wichtigste, dass uns die Musik gefällt, dass wir unsere CDs in den Player schieben können und uns alle einen darauf abwichsen. Alles andere ist zweitrangig.“

Natürlich gehören diese Vielfalt und dieser Perfektionismus zum Reiz der Band, ebenso wie die kryptischen Texte von Aydo Abay, der die Band 2008 verließ („Verstanden zu werden ist mir relativ unwichtig. Ich habe inzwischen kapiert, dass das bei meiner Art von Lyrics praktisch unmöglich ist. Es gibt keinen roten Faden darin, an dem du dich festhalten könntest. (…) Ich selbst kapiere ja in der Regel auch erst mit ziemlichem Abstand, was da aus mir raus wollte“, hat er zu Visions gesagt) und von Mathias Reetz ersetzt wurde.

All dies bietet genug Projektionsfläche, um sich tatsächlich so obsessiv mit dieser Band zu beschäftigen zu können, wie es notwendig ist, um sie legendär werden zu lassen. Befeuern lässt sich diese Leidenschaft noch heute mühelos, wie auch die Rare Tracks im zweiten Teil zeigen. Die Musik von Today könnte von Bloc Party sein, der Gesang ist natürlich ganz anders, aber auf gleiche Weise dominierend wie der von Kele Okereke. Carmine darf man guten Gewissens als Stoner Rock betrachten, The Light Of The Son Is The Son Of The Light klingt wie Get Well Soon im Punk-Modus, der Schlusspunkt Dare Defender ist fast halsbrecherisch energisch.

Natürlich zeigen auch die Raritäten den weiten musikalischen Horizont der Band: Booth Baby hat ein akustisches Fundament, Euthanasia stellt repetitive Elemente in den Vordergrund, das energische Slow Summer wird im Finale fast zu Country. Foe hat eine erstaunliche Gelassenheit in der Strophe, umso größer wirkt dann der Refrain. Die Dramaturgie von Love Like Blood (im Original von Killing Joke) basiert auf dem coolen Bass, Mad World gehört zu den besseren Versionen dieses tausendfach gecoverten Songs von Tears For Fears.

Die Klasse dieser Band zeigt auch die Tatsache, dass es hier – wie im gesamten Schaffen von Blackmail – keine Ausrutscher gibt, auch das ist eine Seltenheit bei deutscher Rockmusik. Anhand der insgesamt 22 Stücke kann man letztlich nachvollziehen, wie sich eine Band klar an internationalen Vorbildern orientiert, sich sehr schnell von ihnen emanzipiert und einen individuellen Sound erschafft, der eine ganze Generation inspiriert und deutlich macht, dass die Konzentration auf die eigene Kreativität und die eigenen Möglichkeiten bisher ungeahnte Klasse und Authentizität in deutscher Alternative-Musik darstellen kann. Längst nicht nur die Freunde von Visions haben Blackmail mit höchstem Lob überschüttet (Friend Or Foe platzierte die Redaktion auf Platz 142 in der 2005 erstellten Liste der “150 Platten für die Ewigkeit”; die deutsche Ausgabe des Rolling Stone berücksichtige Bliss, Please im Jahr 2004 als eines der wenigen deutschen Alben in der Liste der “500 besten Alben aller Zeiten”). Das Ziel, das Kurt Ebelhäuser 2001 für seine Band formuliert hat, haben Blackmail also in jedem Fall erreicht: „Mein größter Wunsch wäre, nicht zu groß zu werden, aber eine Art Auslöserfunktion zu erfüllen.“

Blackmail an der Theke: das Video zu Same Sane.

Website von Blackmail.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.