Maurice Summen – “Paypalpop”

Künstler*in Maurice Summen

Maurice Summen Paypalpop Review Kritik
Auf Dienstleister hat Maurice Summen für “Paypalpop” gesetzt.
Album Paypalpop
Label Staatsakt
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Dass sich Maurice Summen mit den aktuellen Produktionsbedingungen von Popmusik beschäftigt, ist nicht überraschend. Er ist nicht nur Frontmann bei Die Türen, sondern hat 2003 auch die Plattenfirma Staatsakt gegründet, ist als Journalist etwa für den Musikexpress tätig und schreibt gelegentlich Songs für Acts wie Deichkind, Andreas Dorau oder Fettes Brot. Was er auf seinem ersten Soloalbum Paypalpop veranstaltet, ist dennoch höchst erstaunlich. Mit sehr vielen kurzweiligen Sounds blickt er hier nämlich auf Absurditäten des Alltags und hinterfragt zudem Vorstellungen von Autorschaft generell und Geniekult im Speziellen.

Was damit gemeint ist: Viele Musikfans hegen weiterhin die Vorstellung, dass ein verzweifelter Jüngling mit Klavier oder Gitarre im einsamen Kämmerlein aus seinem Liebeskummer oder seinem Weltschmerz ebenso einzigartige wie universelle Lieder destilliert und so zum Weltstar wird. Selbst in Genres, in denen Samples und Elektronik regieren, haben sich umjubelte DJs oder gefragte Produzent*innen mit ähnlichem Status herausgebildet. Selbst Künstlern wie Max Martin, der nie selbst als Interpret in Erscheinung getreten ist, aber bisher zehn Mal von der American Society of Composers, Authors and Publishers (ASCAP) zum Songwriter des Jahres gewählt wurde, unterstellt man magische, quasi übernatürliche Fähigkeiten wie ein “goldenes Händchen”. Aus den Tiefen ihrer Seele, aus ihrer außergewöhnlichen Individualität oder schlicht aus ihrem überbordenden Talent erschaffen sie alle Lieder, die Klassiker werden – so die gängige Meinung.

Wie weit diese Überhöhung oft von der Realität des Musikgeschäfts entfernt ist, führt Maurice Summen mit Paypalpop vor Augen (und Ohren). Er hat während der Corona-Zeit immer wieder kleine Ideen, Melodie-Fragmente und einzelne Textzeilen in sein Handy gesprochen und hatte dann den Einfall, diese Bruchstücke von anderen Leuten in fertige Songs verwandeln zu lassen. Genauer gesagt: von Ghost Producern in aller Welt. Damit sind professionelle Musiker*innen gemeint, bei denen man gegen Bezahlung einzelne Musikstücke beauftragen kann. Also etwa “Hier sind zwei Takte, daraus soll ein Rocksong werden, der wie Aerosmith klingt” oder “Ich habe hier einen Bass, der ungefähr so klingt, mach eine Mischung aus Reggae und Trap daraus”. Die Ghost Producer erschaffen die entsprechenden Stücke und treten alle Rechte daran ab. Sie tauchen nirgends in den Credits auf, stattdessen schmückt sich höchstwahrscheinlich der Auftraggeber mit ihrer kreativen Leistung.

Auf die Spitze getrieben wird dieser “große Hyperpop-Zeichensalat” (Markus Göres im Pressetext zu dieser Platte) durch die Tatsache, dass die häufig unter prekären Bedingungen tätigen Ghost Producer nicht nur unsichtbar gemacht werden, sondern für Maurice Summen auch tatsächlich anonym waren. Er hat für das Album-Budget ein Limit von 1000 Euro gesetzt und dann im Netz nach entsprechend günstigen Sound-Dienstleistern gesucht, von denen er meist nur eine Mailadresse kannte. Sie kommen aus Spanien, Russland, Kenia, Israel, UK, Bangladesch, Kanada, Deutschland, Südafrika und Jamaika, stecken hinter Nicknames wie “Erictango” oder “Multimike” und werden hier wahrscheinlich erstmals in ihrer Karriere für ihre Beiträge auch auf der Plattenhülle genannt.

Genau, wie Maurice Summen auf Paypalpop diese Entstehungsbedingungen transparent macht, damit seine eigene vermeintliche Schaffenskraft entzaubert und fragwürdige Produktionsbedingungen im Pop-Business transparent macht, entlarvt er hier auch ein paar weitere Lebenslügen, Widersprüche und Bequemlichkeiten. Wie das funktioniert, zeigt schon der Opener Alte Fotos. “Junge Leute haben keine alten Fotos”, lautet die einzige Textzeile darin. Es ist ein schlichter, sogar offensichtlicher Gedanke. Summen beweist aber: Unterlegt man ihn mit schicken Elektrobeats und wiederholt man ihn nur oft genug, dann gewinnt er genug Bedeutsamkeit, um als Songtext zu funktionieren.

Das zeigt sich auch danach immer wieder, etwa im ebenso schrägen wie eingängigen Hey Autos! mit seinen Latin-Rhythmen, in Organic, das lediglich diverse Produkte aus dem Bioladen und die jeweiligen Preise aufzählt, oder in Besoffen bei Discogs, das mit Wah-Wah-Gitarren und Orgel genüsslich Vinyl-Snobs und rastlose Plattensammler aufs Korn nimmt. Klanglich liegt der Schwerpunkt des Albums mal auf sehr modernen Pop/RnB-Produktionen, mal auf viel Seventies-Flair. Zur Bandbreite gehören aber auch das düstere und harte Früherwarichpunk, das sehr gechillte Black Friday, die Dub-Exkursion Link In My Bio oder Das Ladekabel mit viel Funk-Power als bester Song des Albums.

Wenn Maurice Summen in Tote Männer gesteht “Ich folge toten Männern im Internet”, dann darf man stark vermuten, dass dazu George Clinton, Isaac Hayes und Rick James gehören. Als Referenzpunkte kann man auch die Tausendsassa-Verspieltheit von Jacques Palminger nehmen, die augenzwinkernde Tanzbarkeit von Peter Licht und selbst den Ansatz von Helge Schneider, dass sich letztlich aus jedem noch so abwegigen Einfall ein Lied machen lässt. Zu den Stärken des Paypalpop gehört, dass Summen genau weiß, wie lange seine Ideen tragen. Gleich 5 von 15 Tracks bleiben unter der 3-Minuten-Grenze, drei weitere sind nur ganz knapp darüber, weil nach dieser Spieldauer in der Tat alles gesagt ist.

Ein Track wie Alles tut www (feat Girlwoman) wäre dabei auch ohne dieses Wortspiel reizvoll, ebenso Autoresponder mit seinem verlockenden Wunsch, unangenehme Nachrichten einfach ignorieren zu können. Manche Zeile ist für sich genommen Nonsens, viele sind Banalitäten, was den spontanen Entstehungscharakter als Handy-Notiz unterstreicht. Trotzdem hat der Paypalpop zwei erstaunliche Effekte. Erstens wirken diese Banalitäten wie ungeahnt kritische Beobachtungen und entlarvende Analysen, wenn sie zu Songtexten werden und damit wie unter einem Brennglas erscheinen. Müssen wir damit prahlen, dass wir eine seltene Schallplatte haben? Müssen wir uns darüber definieren, dass wir im Biomarkt einkaufen? Müssen wir uns von Rabatten zum Kaufen zwingen lassen? Mit ganz wenigen Worten und maximaler Nonchalance werden hier diese keineswegs banalen Fragen gestellt. Zweitens entsteht durch diese Methode in Summe etwas, das man bei den unzähligen Ghost Producern kaum für möglich gehalten hätte: ein sehr eindrucksvoller, sogar einzigartiger Charakter.

Dem Video zu Das Ladekabel geht, ähem, nicht so schnell der Saft aus.

Maurice Summen bei Twitter.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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