Hingehört: Kristin Kontrol – “X-Communicate”

Künstler Kristin Kontrol

X-Communicate Kristin Kontrol Rezension Kritik
Aus Dee Dee ist Kristin Kontrol geworden.
Album X-Communicate
Label Sub Pop
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Ich habe wirklich vollstes Verständnis für Künstler, die sich neu erfinden wollen. Die ständige Weiterentwicklung, das Austesten der eigenen Grenzen, das Eingehen von Risiken – das ist es schließlich, worum es in der Kunst geht. Kristin Gundred, bisher bekannt als Dee Dee von den Dum Dum Girls, war eine naheliegende Kandidatin für dieses Vorhaben. Zum einen hat sie schon mit ihrer großartigen Band bewiesen, wie kreativ und ambitioniert sie ist. Zum anderen waren die Dum Dum Girls nach drei Alben und vier EPs zu einer Marke geworden, die für ein ziemlich konkretes Klangbild zwischen Garagenrock und Noisepop stand, das zumindest innerhalb der Erwartungshaltung der Fans nicht mehr allzuviel Spielraum bot.

Das Spektrum an musikalischen Genres, die sie mag, ist allerdings deutlich größer als im Sound, den man bisher von ihrer Band zu hören bekam. Deshalb ist aus Dee Dee nun Kristin Kontrol geworden, und mit X-Communicate will sie all ihre verschiedenen Einflüsse in einem Album integrieren. “The first music I felt was mine was classic 80s pop and 90s R&B, from Tiffany and Debbie Gibson to Janet Jackson and Madonna, to TLC and SWV,” sagt Dee Dee Kristin Kontrol. “But for years I was hellbent on the rock’n’roll thing, revering Joan Jett, Patti Smith, Chrissie Hynde”, klagt sie, und gibt sogleich ihr neues Ideal vor: “I thought I’m Kate Bush covering Mariah.

In der Tat könnten viele Momente von X-Communicate kaum weiter vom bisherigen Sound der Dum Dum Girls entfernt sein. Es gibt Gitarren auf diesem Album, aber sie klingen nicht nach Rock’N’Roll, und schon gar nicht nach Garage. Es gibt auch altbekannte Mitstreiter wie die Produzenten Kurt Feldman (mit dem sie schon einmal für eine Weihnachtssingle zusammengearbeitet hatte) und Andrew Miller (der zuletzt als Gitarrist bei den Dum Dum Girls mitwirkte). Aber ihre Arbeitsweise hat Kristin Kontrol völlig umgestellt. Alle zehn Songs hat sie auf dem Keyboard komponiert, das Ergebnis erinnert an das, was man circa 1990 zu hören bekam, wenn man zu einer beliebigen Zeit des Tages das Radio oder MTV einschaltete: Viele Computerbeats, viel Synthetik, viele Liebeslieder. “I feel free. I had to excommunicate myself to be able to explore. Even if I have to rebuild my whole career, I’d rather work tirelessly than feel stagnant. I feel excited again, and you can’t put a price on that”, jubelt sie angesichts ihrer neuen Inkarnation.

Entsprechend programmatisch beginnt das Werk. “There is no need to change yourself”, wiederholt sie im Album-Opener Show Me immer wieder, gefolgt vom entscheidenden Hinweis “I take you as you are”. Das ist die Erkenntnis, die sie mit X-Communicate feiert: Treu bleibt man sich nicht, indem man immer dasselbe macht. Sondern indem man erkennt, wenn man Lust auf etwas Neues hat und sich dann auch darauf einlässt. “It wrote itself in 20 minutes,” sagt Kristin über Show Me, das man in der nähe von Kim Wilde (oder, wenn man eine aktuellere Referenz bevorzugt: Ladyhawke) verorten könnte. “The pre-chorus references Milan Kundera, which has a certain personal significance, but lends itself to the universal. It’s for everyone just trying to get by, burdened with baggage. I kept it direct and positive, and hoped it did the thing that songs sometimes do – state a simple truth in a compelling way: I take you as you are.”

Als Auftakt ist das zumindest interessant, es gibt auch danach keine schlechten Songs auf dieser Platte. Aber schon bald drängt sich die Frage auf: Warum schon wieder die Eighties? Weshalb müssen 99 Prozent aller Künstler, die gerade nach einer stilistischen Neuorientierung suchen, in diesem verfluchten Jahrzehnt landen (ein paar kostenlose Tipps von mir für interessantere Experimente: Neon Grunge, Hippie Hardcore, Dubstep Unplugged)? Warum hat nicht wenigstens Kristin Kontrol erkannt, dass es nicht ganz so mutig ist, mit dem alten Stil zu brechen, um dann ausgerechnet das Genre zu bedienen, in dem es aktuell ohnehin ein riesiges Überangebot gibt?

Denn X-Communicate macht schnell deutlich, dass die Achtziger hier keineswegs in ihrer schillerndsten Gestalt wiederauferstehen. Der Titelsong beispielsweise bedient den Sound, den Kylie Minogue vor 25 Jahren unters Volk brachte. Die Strophe bräuchte allerdings deutlich mehr Punch, der Refrain deutlich mehr Glorie. Face 2 Face hätte bestimmt gut auf ein Album von Cyndi Lauper im Jahr 1986 gepasst, wäre aber auch damals schon planlos gewesen. In Going Thru The Motions wirkt der Titel wie ein unfreiwilliger Fingerzeig: Das Lied erinnert an die Fließbandware, die einstige Größen wie die Bee Gees in den frühen 1990er Jahren abgesondert haben, also mindestens anderthalb Jahrzehnte, nachdem sie die letzte gute Idee gehabt hatten.

Auch (Don’t) Wannabe, das absolute Lieblingslied von Kristin Kontrol (“I think it’s the best song I’ve ever written. It’s honest. It makes me sad to listen to it.”), bietet reichlich Eighties, aber ohne Glamour. White Street ist ein weiterer persönlicher Favorit der Künstlerin. “It’s my most narrative song ever: I am, line by line, describing last New Year’s Eve – at least up until a certain point when it becomes more speculative,” erklärt sie die Idee dahinter. “In the first verse I mention that walking to the subway takes ‘the length of four Eno songs’, and my favorite bit is that I later list them in the outro.” Das ist sicherlich clever, aber als Komposition (erste Annäherung: B-Seite von Pat Benatar) insgesamt trotzdem nicht überzeugend.

Natürlich bietet Kristin Kontrol auch gute Songs. Im gelungenen Rausschmeißer Smoke Rings lässt die in diesem Kontext unvermeidliche Kate Bush grüßen. What Is Love, der beste Track des Albums, zeigt mit seiner schönen Atmosphäre, wie die Bangles vielleicht hätten klingen können, wären sie jemals mit sich im Reinen gewesen. Skin Shed hat eingängige House-Elemente zu bieten, unterstreicht aber letztlich das Problem dieses Albums: Diesen Song könnte man sich problemlos auch von Beth Ditto, Paris Hilton oder Roxette vorstellen. Ein wenig erinnert diese Platte an den seltsamen Versuch von Michael Jordan, sich als Baseballspieler zu versuchen: Das Talent und die Meisterschaft, die man in einem Bereich erreicht hat, wird mit den Füßen getreten, nur um einen anderen Bereich zu erkunden, in dem man aber womöglich nie reüssieren wird. Als Dee Dee war diese Musikerin einzigartig. Als Kristin Kontrol ist sie bloß eine von vielen Achtziger-Epigonen.

Ein Erklärvideo: Das ist Kristin Kontrol.

Website von Kristin Kontrol.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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