Interview mit Erasure

Vince Clarke (rechts) und Andy Bell haben nach 28 Jahren als Erasure ein Weihnachtsalbum gemacht. Foto: Phil Sharp/Add On Music
Vince Clarke (rechts) und Andy Bell haben nach 28 Jahren als Erasure ein Weihnachtsalbum gemacht. Foto: Phil Sharp/Add On Music

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Man stelle sich eine Szene vor im Jahr 1986: eine Aufzeichnung von Top Of The Pops, ein Flur zwischen den Garderoben, auf dem die Mitglieder von Depeche Mode, OMD, den Pet Shop Boys und Erasure gerade eine rauchen. Jemand stößt dazu und sagt: Hi Jungs, wir sehen uns wieder in 25 Jahren! Es wäre eine ziemlich irre Idee gewesen. Top Of The Pops gibt es zwar nicht mehr, aber die Bands sind alle noch (oder wieder) da. Auch Erasure. Sie legen nun ein Weihnachtsalbum namens Snow Globe vor. Ich habe mit Vince Clarke darüber gesprochen, was die Magie des Synthiepops ausmacht, warum er es mit Bandkollege Andy Bell schon so viel länger aushält als mit den Leuten in seinen früheren Projekten – und wie man eigentlich in einem Tonstudio im Februar in Weihnachtsstimmung kommen kann.

Hallo, Vince! Bevor wir über euer neues Album Snow Globe sprechen, würde ich dir gerne von einem Buch erzählen, das ich gerade gelesen habe. Es ist ein Roman von Kevin Mahers namens Nichts für Anfänger. Es geht um einen Jungen, der in den Achtzigern in Dublin aufwächst und ein ziemlich beschissenes Leben hat: Er wird von einem Pfarrer vergewaltigt, sein Vater hat Krebs und mit 14 schwängert er seine Freundin. Aber er liebt Pop, er tanzt in seinem Zimmer zu den Liedern von Bronski Beat und Madonna und Culture Club. Es wirkt, als wären diese Lieder für ihn ein 3-Minuten-Paradies in einer Welt voller Scheiße. Ist es das, was Popsongs leisten sollten?

Vince Clarke: Ja, vielleicht. Vor allem in diesem Alter ist Popmusik unglaublich wichtig und wirkungsvoll. Sie ist etwas, das deine Eltern nicht verstehen – das ist schon mal eine gute Sache. Sie ist eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Das war bei mir damals genauso, Es gab eine Menge Lieder, die ich gehört habe und bei denen ich dachte: „Die drücken genau das aus, was ich fühle.“

Versucht du, diesen Effekt auch mit den Songs zu erzielen, die du für Erasure schreibst?

Clarke: Nein, ich strebe damit eigentlich gar keine Effekte an. Wenn Andy und ich Lieder schreiben, geht es in allererster Linie darum, dass sie uns beiden gefallen. Manchmal stellt sich dann die glückliche Konstellation ein, dass auch andere Leute diese Lieder mögen. Die Fans kommen gelegentlich zu uns und erzählen, wie sehr sie ein Lied berührt hat oder dass es ihnen in einer schwierigen Phase in ihrem Leben geholfen hat. Aber das kann man niemals wirklich beabsichtigen. Jeder zieht das aus einem Lied, was er möchte. Und meistens ziehen die Leute für sich Sachen daraus, die wir niemals erwartet hätten.

Man könnte sagen – um noch einmal auf das Buch von Kevin Maher zurückzukommen – dass die Welt noch immer schrecklich ist, dass es aber kaum noch tolle Popsongs gibt, in die man sich flüchten kann. Würdest du da zustimmen?

Clarke: Nein, das glaube ich nicht. Es gab immer gute und schlechte Musik, auch heute. Ich höre mir viele aktuelle Sachen an, und da ist einiges dabei, das mir wirklich gefällt. Es kommt sogar vor, dass ich total besessen bin von irgendeinem neuen Sound oder einer tollen Produktion.

Gibt es neue Künstler, in denen du den Einfluss von Erasure erkennst?

Clarke: Nein, eigentlich nicht. Wenn uns jemand als einen wichtigen Einfluss nennt, dann fühle ich mich natürlich geschmeichelt. Aber allzu viele Parallelen kann ich dann meistens nicht erkennen – abgesehen von der Tatsache, dass wir alle Synthesizer verwenden.

Wenn es nicht der Einfluss auf die nächste Generation von Musikern ist: Wie erkennst du, ob Erasure noch relevant sind? Schaust du auf die Verkaufszahlen oder auf die Kritiken oder die Reaktionen der Fans? Was macht dich sicher, dass Erasure noch wichtig sind?

Clarke: Es ging uns nie darum, wichtig zu sein. Wir machen gerne Musik, hoffentlich machen wir gute Musik, und zunächst einmal machen wir die für uns selbst. Darum geht’s. Andy und ich sind in dieser Hinsicht unsere schärfsten Kritiker. Und darum lese ich auch nie Rezensionen – das ist mein Mantra.

Ihr macht jetzt seit 1985 gemeinsam Musik. Wahrscheinlich wirst du dich jetzt sehr alt fühlen, aber das bedeutet: Eure erste Platte war, in Jahren gerechnet, genauso nah an den ersten Erfolgen von Elvis Presley wie sie an heute ist. Wie fühlt sich das an, so lange dabei zu sein?

Clarke: In erster Linie fühlen wir uns sehr glücklich und privilegiert. Als wir angefangen haben, hätten wir uns nie träumen lassen, solange als Band zusammen zu arbeiten. Wir sind dankbar, dass es uns noch gibt. Und vor allem haben wir das unseren sehr loyalen Fans zu verdanken. Manche von ihnen kommen seit 25 Jahren zu unseren Konzerten, sie bringen mittlerweile sogar ihre Kinder mit.

Viele eurer Zeitgenossen wie OMD oder die Pet Shop Boys sind auch noch aktiv. Was macht in deinen Augen den Synthiepop-Sound so besonders, dass er heute noch funktioniert?

Clarke: Ein wichtiger Faktor bei Erasure ist sicher, dass es uns nie so sehr um die Technologie oder Studiotricks ging, sondern immer in erster Linie um die Komposition. Die meisten unserer Lieder sind auf einer Akustikgitarre oder dem Klavier entstanden. Wir versuchen, die beste Melodie und den besten Text hinzubekommen. Und ein Lied, das sie unter der Dusche singen können, wird den Leuten wohl immer gefallen.

Was betrachtest du als die größte Leistung von Erasure?

Clarke: Wahrscheinlich die Tatsache, dass ich immer noch mit Andy zusammen Musik mache. Lieder zu schreiben ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Man streitet sich, man macht Fehler, und man braucht jemanden, den man wirklich respektieren kann, um damit klarzukommen. Andy ist ein so offener und vertrauenswürdiger Mensch – es ist toll, dass wir immer noch zusammen Musik machen und uns immer noch lieben.

Andys Stimme klingt auf Snow Globe unglaublich gut, so als ob sie gar nicht gealtert sei. Hast du eine Ahnung, wie er das anstellt?

Clarke: Er pflegt seine Stimme mittlerweile sehr gut. Er passt auf sich auf – vom Nachtleben bekommt er bestimmt nicht mehr so viel mit. (lacht)

Schenkt ihr euch eigentlich gegenseitig etwas zu Weihnachten?

Clarke: Nein. Jeder von uns hat seine eigene Familie, deshalb feiert jeder für sich. Ich werde in diesem Jahr zu Weihnachten wahrscheinlich hier in New York sein und Andy in Florida. Aber wir senden uns immer Weihnachtskarten.

Was wäre das ultimative Weihnachtsgeschenk für dich?

Clarke: Ich würde mir jemanden wünschen, der das Weihnachtsessen für mich kocht. Normalerweise mache ich das selbst, und es ist ein Haufen Arbeit, das für ein paar Leute hinzukriegen. Ein Küchenassistent wäre toll, oder jemand, der das gleich ganz für mich übernimmt.

Die Aufnahmen für Snow Globe haben im Februar begonnen, also zwei Monate nach Weihnachten. Wie kommt man da in Adventsstimmung? Habt ihr ein paar Tricks versucht, so etwas wie einen Weihnachtsbaum mitten im Studio?

Clarke: Wir haben das Studio tatsächlich ein bisschen dekoriert. Das hat auch ganz gut funktioniert. Trotzdem war es schwierig, denn es war ein ungewöhnlich warmer Februar in New York. Mir ging es aber gar nicht so sehr um Adventsstimmung: Einige von den Traditionals, die wir aufgenommen haben, kannte ich vorher gar nicht. Ich habe versucht, sie nicht als Weihnachtslieder zu betrachten, sondern einfach als neues Material, an dem wir gerade arbeiten.

Wenn ihr mit Snow Globe zeigen wollt, das mit Erasure wieder zu rechnen ist, erscheint es ziemlich seltsam, dass die Platte drei Coverversionen und vier Traditionals enthält. Hätte es nicht mehr Sinn gemacht, lieber ein Album mit komplett eigenen Songs zu machen?

Clarke: Das wollten wir eigentlich auch. Aber in Andys Privatleben sind zuletzt so viele Sachen passiert [im April 2012 ist sein Freund Paul gestorben, mit dem er 25 Jahre zusammen war], dass es für ihn wirklich schwierig gewesen wäre, ein ganzes Album zu schreiben. Deshalb haben wir beschlossen, nur ein paar eigene Songs zu machen und sie mit Coverversionen und Traditionals zu mischen. Im Frühjahr werden wir aber schon mit der Arbeit an neuen Liedern beginnen und wir haben vor, ab dann wieder regelmäßig mehr eigenes Material herauszubringen.

Wie kam die Idee eines Weihnachtsalbums zustande? Habt ihr schon immer davon geträumt, eins zu machen?

Clarke: Ehrlich gesagt war das die Idee unseres Managers. Ich war davon am Anfang nicht sonderlich überzeugt. Es gibt so viele Weihnachtslieder, die man schon eine Million Mal gehört hat. Es ist sehr schwierig, sie noch einmal ganz neu klingen zu lassen, ihnen einen unverwechselbaren Charakter zu geben – aber genau das war unser Ziel. Ich denke, dass wir das hinbekommen haben. Aber Snow Globe wird sicher unser einziges Weihnachtsalbum bleiben. (lacht)

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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