Interview mit William Fitzsimmons

This man does have a party. Sometimes. Photo: Ole Westermann, Myp Magazine
Dieser Mann lässt es gerne krachen. Zumindest manchmal. Foto: Ole Westermann, Myp Magazine

Es ist die letzte Show der Europatour für William Fitzsimmons. Es war eine schöne Reise, sagt er, aber er macht auch keinen Hehl daraus, wie sehr er sich auf die Heimkehr in die Staaten in zwei Tagen freut. Vor vier Wochen wurde seine zweite Tochter geboren, und er hat sie bisher noch nicht gesehen. Ich treffe ihn im UT Connewitz in Leipzig und es wird ein wunderbares Interview mit einem Gesprächspartner, der sich genauso reflektiert, intelligent und ehrlich zeigt, wie man das angesichts seiner Musik erhoffen würde. Ihm gefällt es auch, behauptet er: „That was awesome. No joke. Maybe the coolest interview ever”, lautet sein Fazit. Hier also ein Gespräch, das eigentlich eine Therapiesitzung ist. Über Patchwork-Familien, die Dire Straits, alte Menschen in Clubs und sechs Wochen ohne Sex. (English version)

Hi William! Ich muss gestehen: Statt eines Interviews hätte ich lieber eine Therapiesitzung. Schließlich hast du früher als Psychotherapeut gearbeitet, und die Chance einer kostenlosen Sitzung will ich mir nicht entgehen lassen. Und einige Leute behaupten, dass ich dringend professionelle Hilfe brauche.

William Fitzsimmons (lacht): Das brauchen wir doch alle, Mann!

Wunderbar, danke. Ich hoffe, du hast kein Problem damit, auf dein früheres Dasein als Psychotherapeut festgelegt zu werden.

Fitzsimmons: Nein, überhaupt nicht. Das ist immer noch eine meiner größten Leidenschaften. Für dieses Metier entscheidet man sich nur, wenn man wirklich dafür brennt – ansonsten wird man schnell merken, dass es eine Qual ist.

Dann würde ich gerne über mein erstes Problem sprechen: Dein aktuelles Album heißt Lions, und der Name gefällt mir überhaupt nicht. Denn ich kann Tiere auf den Tod nicht ausstehen. Was sagt das über mich?

Fitzsimmons: Nach welcher Methode soll ich das denn analysieren? Freud?

Keine Ahnung, du bist der Experte! Freud könnte aber spannend werden, denke ich.

Fitzsimmons: Okay. Ich denke, Tiere repräsentieren in einer sehr puren Form bestimmte Eigenschaften. Deshalb mag ich Tiere, deshalb rede ich gerne über sie und deshalb spielen sie auch eine Rolle in meiner Musik. Vögel, Hasen, Löwen, Hunde. Hunde zum Beispiel stehen für Loyalität. Es gibt kein besseres Beispiel für unbedingte, hingebungsvolle Zuneigung als einen Hund. Du kannst ihn treten, aber er wird immer noch nichts anderes wollen, als dein Freund zu sein. Ein Löwe ist edel und gefährlich und böse. Und all diese Eigenschaften stecken auch in uns. Sie sind nur ein bisschen besser versteckt, und deswegen vermeiden wir es gerne, uns damit auseinander zu setzen. Man gibt nicht gerne zu, dass man eine böse Seite hat. Die Menschen betrachten sich normalerweise als gut. „Ich bin ein guter Mensch! Ich habe nie jemanden getötet!“ Die Wahrheit ist: Die Fähigkeit dazu steckt in jedem von uns. Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Serienmörder ist, dass ich niemanden umgebracht habe. Das mag wie ein großer Unterschied wirken, aber das ist es meiner Meinung nach nicht. In den Momenten, in denen ich Hass und Bosheit und Wut in mir gespürt habe, war ich auch sehr nah daran, jemanden töten zu können. Dass man das nicht wahrhaben will, ist vielleicht der Grund dafür, dass du keine Tiere magst. Da ist vielleicht eine dunkle Seite, mit der du dich nicht auseinandersetzen willst.

Meine Theorie lautet eher: Ich mag keine Tiere, weil sie nicht sprechen können. Dadurch erscheinen sie mir hochgradig uninteressant. Natürlich gibt es so etwas wie Kommunikation, wenn man beispielsweise einen Hund als Haustier hat. Aber das ist doch niemals dasselbe wie das Gespräch mit einem Menschen. Vielleicht ist es sogar so ähnlich wie zwischen Künstler und Publikum: Der Künstler soll das Publikum füttern, das Publikum schaut zu ihm auf – aber das ist niemals eine Beziehung auf Augenhöhe. Würdest du da zustimmen?

Fitzsimmons: Das ist ein interessanter Vergleich. Aber Kommunikation hat so viele Ebenen! In einer Berührung kann beispielsweise viel mehr Aussage stecken als in gesprochenen Worten. Es gibt so viele Dinge, die man über Sprache einfach nicht zum Ausdruck bringen kann.

Wenn du bei einem Konzert ins Publikum blickst oder dich mit Fans unterhältst, fühlst du dich dann manchmal, als seiest du das Herrchen und als wären sie die Haustiere?

Fitzsimmons: Vielleicht manchmal. Insgesamt sehe ich das aber eher als einen sehr interaktiven Prozess. Wenn die Leute eine Verbindung zu meinen Songs aufbauen, dann liegt es nicht daran, was ich darin erzähle. Kunst funktioniert, weil wir unsere eigenen Probleme, unsere eigenen Gefühle hineinlegen können. Das geht mir auch selbst so. Denison Winter [der in Leipzig das Vorprogramm für William Fitzsimmons bestreitet] hat einen Song namens Born Without The Words. Als er mir das Demo vorspielte, war meine älteste Tochter gerade erst ein paar Monate alt. Das hat mich wirklich berührt, ich habe ganz viele von meinen Gedanken darin erkannt. Aber was ich da hineininterpretiert habe, hatte nichts damit zu tun, was Denison eigentlich ausdrücken wollte. Und das ist auch gar kein Problem.

Es geht darum, was man selbst daraus macht.

Fitzsimmons: Genau. Man nennt das Konstruktivismus: Es gibt keine Bedeutung per se, sondern sie wird durch unsere eigenen persönlichen Erfahrungen auf etwas projiziert. Deshalb glaube ich, dass die Beziehung zum Publikum eine interaktive ist. Der Fan ist nicht bloß ein passiver Teilnehmer. Wenn eine Show einmal magisch wird, dann liegt das nicht daran, dass ich gerade besonders gut spiele, sondern es liegt am Publikum. Solche Momente passieren nur, wenn alle ihren Teil dazu beitragen.

Ich würde gerne noch einmal auf die Löwen zurückkommen, denn der Gedanke passt dazu. Hast du Lions vielleicht auch deshalb als Albumtitel gewählt, weil Löwen eher soziale Tiere sind? Die meisten anderen Raubkatzen sind ja Einzelgänger.

Fitzsimmons: Ja. Löwen leben von Natur aus gemeinsam in Rudeln. Aber ihr Sozialverhalten ist gleichzeitig faszinierend und gestört. Die Weibchen übernehmen oft das Jagen. Aber wer kriegt dann den ersten Bissen von der Beute? Die Männchen! Und wer kriegt den zweiten Bissen? Die Jungtiere. Die Weibchen sind dann meistens erst als letzte dran. Das ist Bullshit! Befremdlich ist auch, dass sich Löwen sehr innig um ihren Nachwuchs kümmern, aber die männlichen Jungtiere dann irgendwann vom Rudel ausgeschlossen werden. Sie werden zu einer Bedrohung, und dann schmeißt man sie raus und sie müssen ihren eigenen Weg gehen. Vielleicht werden sie sterben, vielleicht werden sie allein dahin ziehen, vielleicht gründen sie eine eigene Familie. Das sind sehr seltsame Prozesse, zu denen man auch in unserer Kultur viele Parallelen finden kann.

Auch in deinem eigenen Leben?

Fitzsimmons: Ja. Zum Beispiel bei der Tatsache, dass ich Stiefvater bin. Ich schaue mir die Beziehung zwischen meiner Tochter und ihrer biologischen Mutter an. Wie wird sich das entwickeln? Wie kommen sie damit klar, dass da mal jemand war, zu dem es ein scheinbar unzertrennliches Band gab, das jetzt aber zerschnitten ist? Vielleicht erweist sich das als positive Erfahrung, vielleicht wird es kompliziert. Auch für mich selbst: Ich habe jetzt Kinder, zu denen ich keine biologische Verbindung habe. Trotzdem würde ich jederzeit für sie sterben oder töten. Verstehst du, was ich meine?

Ja. Zu einer Familie gehört mehr als nur gemeinsame DNA.

Fitzsimmons: Ganz genau. Es ist nicht so, dass Gene keine Rolle spielen. Aber es sind andere Dinge, die zählen: Dass man füreinander da ist. Dass man sich aufopfert. Solche Sachen werden mir jetzt klar. Ich hatte keine Ahnung davon, als ich 18 oder 25 war.

Dann würde ich gerne mit meinem zweiten Problem rausrücken: Ich habe das Bedürfnis, alles zu kategorisieren. Ich lege Excel-Tabellen für alles Mögliche an, natürlich auch für Musik. Falls du es wissen willst: Deine Musik ist bei mir als „Folk“ katalogisiert. Kannst du damit leben?

Fitzsimmons: Das ist wunderbar! Was ich mache, betrachte ich selbst als Folk Music, auch wenn ich mal eine E-Gitarre oder elektronische Drums benutze. Und auch das, was meine Helden gemacht haben, Nick Drake, James Taylor, Mark Kozelek oder Sun Kill Moon, ist in meinen Augen Folk. Es besteht aus Überzeugung, Ehrlichkeit, Schönheit.

Aber was ist jetzt mit meiner Excel-Tabellen-Neurose? Was sagt das über mich?

Fitzsimmons (lacht): Kategorisierungen sind fiese Dinger. Sie sind ein notwendiger, aber sehr missverständlicher Teil des Lebens. Nicht nur in der Musik, in allen Bereichen.

Mir ist klar, dass es da einen Widerspruch gibt: Ich selbst halte mich für einzigartig und würde bestreiten, dass man mich einfach in eine Schublade stecken kann. Andererseits versuche ich, für alles und jeden die passende Schublade zu finden.

Fitzsimmons: Bei mir wurde eine Zwangerkrankung diagnostiziert, du musst mir also nichts von solchen Problemen erklären – ich habe da volles Verständnis, Mann. Wichtig ist, dass man die Kategorien mit Vorsicht genießt. Man muss sich bewusst sein, dass sie Vereinfachungen darstellen, dass sie nicht die Wirklichkeit abbilden und dass sie nicht immer passen. Meine älteste Tochter zum Beispiel ist ein Mischlingskind, schwarz und weiß, für meine Neffen und Nichten gilt das auch. Sie werden gefragt: Was bist du denn nun? Schwarz oder weiß? Und weißt du, wie die richtige Antwort darauf lautet? Sie lautet: beides.

Oder: Es ist mir egal.

Fitzsimmons: Stimmt. Aber aus irgendeinem Grund kann die Gesellschaft diese Antwort nicht akzeptieren. Noch ein Beispiel: Gestern Abend habe ich eine wunderbare Frau kennen gelernt, die Transgender ist. Sie wurde als Mann geboren, fühlt sich aber als Frau. Diese Situation habe ich auf meinem Album auch in einem Song thematisiert. Und sie ist ein weiteres Beispiel dafür, dass jemand einfach nur das ausleben will, was er glaubt, in seinem Inneren zu fühlen. Aber aus irgendeinem Grund erlauben wir ihnen das nicht. Ich bin da auch nicht frei von Schuld: Ich bin in einer sehr religiösen Familie groß geworden und mir wurde beigebracht, dass es nur einen Weg zur Tugend gibt, und dass alles, was links und rechts von diesem Weg liegt, falsch ist. Daran glaube ich nicht mehr, aber ich habe eine Weile gebraucht, um das zu überwinden. C.S. Lewis, einer meiner Lieblingsschriftsteller, hat einmal gesagt: Es gibt nichts, was für sich genommen Böse ist. Es kommt immer darauf an, wie wir damit umgehen.

In meinen umfangreichen Excel-Tabellen habe ich übrigens mal nachgeschaut, wer sonst alles ein Album gemacht hat, dass Lions (oder Lion) heißt. Ich habe herausgefunden: The Black Crowes, Youssou N’Dour und Steven Lynch. Außerdem haben die Dire Straits und Chavez ein Lied namens Lions gemacht. Mit welchen von diesen Künstlern kannst du dich am ehesten anfreunden?

Fitzsimmons: Ich liebe die Dire Straits! Mark Knopfler ist ein Held für mich. Weißt du, was ich besonders an ihm schätze? Er hat die Band auf dem Höhepunkt ihrer Karriere verlassen. Sie waren mega-erfolgreich und haben Stadien gefüllt, aber er hat sich damit einfach nicht mehr wohl gefühlt. Es gibt bestimmt nicht viele Leute, die in so einer Situation der Versuchung widerstehen können, es einfach noch ein bisschen laufen zu lassen und jeden Abend 500.000 Dollar einzusacken. Aber er hat sich dagegen entschieden. Diese Art von Glaubwürdigkeit finde ich sehr inspirierend.

Würdest du mit ihm gerne einmal Musik machen? Oder gibt es jemand anderen, mit dem du unbedingt noch gerne zusammen arbeiten würdest?

Fitzsimmons: Ich habe schon mit einer Menge meiner Vorbilder gearbeitet. Brooke Fraser, eine meiner absoluten Lieblingssängerinnen. Rosie Thomas, die auf dem neuen Album mitsingt und zu so etwas wie einer Freundin geworden ist. Sufjan Stevens, der bei einem Song als Toningenieur am Werk war. Chris Walla, der das Album produziert hat. Die Platte, die er mit Death Cab For Cutie gemacht hat, ist unter den Top 5 meiner absoluten Lieblingsalben, ein Meisterwerk. Es gibt natürlich noch einige, mit denen ich gerne etwas machen würde. Justin Vernon von Bon Iver oder Sam Bean von Iron & Wine. Aber ich habe schon ziemlich viele geniale Leute kennen gelernt, ich sollte mich glücklich schätzen statt mich nach noch mehr zu sehnen.

Dann ist es wohl an der Zeit, mein nächstes Problem zu beichten: Ich befürchte, ich verhalte mich nicht sonderlich altersgemäß.

Fitzsimmons: Oh, das kann ich gut nachvollziehen.

Wir sind ungefähr gleich alt, aber ich will diese Zahl nicht wahrhaben. Ein Beispiel: Nach dem Konzert heute Abend könnte ich etwas Altersgemäßes tun und meinetwegen mit meiner Freundin nach Hause gehen und Babys produzieren. Aber stattdessen werde ich wahrscheinlich feiern gehen in einem Laden voller Leute, die 10, 15 Jahre jünger sind. Was sagt das über mich? Und was rätst du mir für die Abendgestaltung?

Fitzsimmons: Naja, du könntest beides kombinieren (lacht).

Stimmt. Aber wenn ich mich für eine Sache entscheiden muss?

Fitzsimmons: Ich bin da wahrscheinlich etwas voreingenommen, weil ich schon so lange auf Tour bin, dass ich seit sechs Wochen keinen Sex mehr hatte. Ich würde mich also für die Sache mit der Babyproduktion entscheiden. Oh Mann, ich kann es echt nicht abwarten, meine Frau wieder zu sehen (lacht). Im Ernst: Sich seinem Alter angemessen zu verhalten, erscheint mir als ein ziemlich lächerliches Konzept.

Das sehe ich auch so. Ich kann aber nicht leugnen: Als ich 18 war und in einem Club irgendwelche richtigen Erwachsenen gesehen habe, fand ich die seltsam. „Was will der alte Mann hier?“ habe ich mich gefragt. Jetzt bin ich vielleicht dieser alte Mann und merke bloß nicht, was die 18-Jährigen denken. Ich sollte meine Freizeit vielleicht lieber anders verbringen – andererseits macht das Feiern noch genauso viel Spaß wie eh und je.

Fitzsimmons: Ich kann mich da gut hineinversetzen, das ist echt eine gute Frage. Letztlich geht es wahrscheinlich darum, Prioritäten zu setzen. Das war für mich einer der coolsten Effekte am Vatersein: Ich war gezwungen, Prioritäten zu setzen.

Dein Rat lautet also: Setze ein Kind in die Welt und höre auf zu feiern?

Fitzsimmons: Naja, das Wichtigste ist zunächst, dass du deine Entscheidung reflektierst. Die Gefahr ist, dass man nicht auf diese innere Stimme hört, die fragt: Willst du das wirklich? Manchmal macht man eben blödsinnige Sachen. Man betrinkt sich, hat ein bisschen Spaß – das ist das Leben, das ist doch wunderschön. Weißt du, vor ein paar Tagen habe ich mich ziemlich abgeschossen. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie, ich hatte Heimweh, wir hatten den letzten Tag auf Tour mit der Band. Danach ging es mir richtig dreckig, und das war einfach nur dumm. Aber ich werde daraus lernen.

Ich glaube, es gibt eine Menge Leute, die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass William Fitzsimmons es auch mal krachen lässt.

Fitzsimmons: Ja, die meisten Leute denken, dass ich den ganzen Tag in einem Sessel sitze und heule (lacht). Manchmal mache ich das auch, schließlich bin ich ein Mensch. Ich gebe sogar zu: Manchmal genieße ich es, wenn ich richtig down bin. Und ich brauche auch keine große Action in meinem Leben, ich fahre nicht gern mit der Achterbahn und ich muss auch keine Fallschirmsprünge machen. Aber ansonsten lebe ich so wie die meisten anderen Menschen auch. Der einzige Unterschied ist, dass ich das Glück habe, Songs darüber schreiben zu können. Ich mag es, starke Emotionen zu spüren, and manchmal habe ich einfach das Bedürfnis, mich richtig in ein Gefühl hineinzuwerfen. So ist das auch bei der Musik: Wenn ich über einen Song nicht heulen kann, dann ist er nicht gut.

William Fitzsimmons considers himself a vessel for songs. Photo: Erin Brown
William Fitzsimmons sieht sich bloß als ein Medium für Songs. Foto: Erin Brown

Der Vorteil des Images als Miesepeter ist natürlich, dass du damit problemlos alt werden kannst. Deine Musik wird auch noch funktionieren, wenn du 70 bist. Hast du das schon einmal so betrachtet?

Fitzsimmons: In gewisser Weise. Aber das Problem ist: Ich erschaffe nichts, ich empfange nur. Ich bin ein Medium, ein Gefäß. So komponiere ich nun einmal. Die Songs sind irgendwo da draußen und sie fließen dann einfach in mich hinein. Bei meinen besten Liedern habe ich keine Ahnung, wie ich die überhaupt geschrieben habe, ich kann mich an kein einziges Wort erinnern. Die wurden mir einfach irgendwie eingegeben.

Das bedeutet aber auch: Sobald diese Inspirationsquelle versiegt und dich keine Songs mehr erreichen, ist deine Karriere vorbei.

Fitzsimmons: Stimmt. Aber das ist eine gesunde Angst, weil es eine realistische ist. Es war übrigens eine der größten Ängste von Nick Drake. Er hat das mal einem seiner engsten Freunde verraten, dass er befürchtet, keine Songs mehr in sich zu haben. Als ich das in einer Biografie gelesen habe, musste ich weinen. Dieser Typ, der so fantastische Lieder gemacht hat, hatte die Sorge, keine Songs mehr in sich zu haben. Ich bin mir sicher, er hätte noch etliche gehabt! Aber er war eben depressiv, sogar im klinischen Sinne …

… was zu meiner nächsten Frage führt und zum heiklen Thema “Selbstmord”. Als ich gestern einem Freund erzählt habe, dass ich zu deinem Konzert gehe, hat er erwidert: „Dann pack bloß die Rasierklingen weg!“ Ich kann diese Assoziation gut verstehen. Ich halte zwar nichts von Selbstmord, aber manchmal mag ich es doch ganz gerne, mir Musik anzuhören, die nach Selbstmord klingt. Was sagt das über mich?

Fitzsimmons (lacht): Ich liebe diese Frage! Weißt du, es gibt zwei Arten von Menschen in der Welt. Die einen mögen Introspektion, und die anderen hassen sie. Ich versuche, die Menschen, die Introspektion hassen, nicht vorzuverurteilen, aber das fällt mir sehr schwer. Ich kann mit Leuten nichts anfangen, die sich partout weigern, sich mit ihrer Vergangenheit, ihrer Familie oder ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Trotzdem kann ich den Kommentar mit den Rasierklingen total nachvollziehen. Ich will mir auch nicht die ganze Zeit depressive Musik anhören. Aber es gibt eben Momente, in denen sie passt, und dann muss man sich auch dafür öffnen können.

Als du noch Patienten als Therapeut behandelt hast, gab es da Fälle, in denen jemand mit Selbstmord gedroht oder sich tatsächlich umgebracht hat?

Fitzsimmons: Oh ja!

Wie bist du damit klargekommen? Das muss eine riesige Verantwortung sein, eine schwere Bürde.

Fitzsimmons: Keiner von meinen eigenen Klienten hat sich umgebracht, Gott sei Dank. Aber ich habe in einem Krankenhaus gearbeitet, wo wir diverse Todesfälle hatten. Überdosis, solche Sachen. Das ist schrecklich. Es ist einfach entsetzlich. Man versucht, eine professionelle Distanz zu entwickeln. Ich habe mich mit vielen Chirurgen über das Problem unterhalten und einige haben mir gesagt, dass sie ihre Patienten einfach als ein Stück Fleisch betrachten, wenn sie sie aufschneiden. Anders kann man damit nicht klarkommen. Wenn man sich wirklich bewusst machen würde, dass man gerade das Leben dieses Menschen in der Hand hat, würde man erdrückt von diesem Gedanken. Ich kann mich an einen Fall erinnern, der beinahe lustig war – jedenfalls, wenn man die Patientin gut genug kannte, und ich habe sie jahrelang behandelt. Sie durfte keine Rasierklingen besitzen, hat dann aber jemandem welche geklaut und sich die Pulsadern aufgeschnitten, allerdings nur oberflächlich. Dann kam sie aus ihrem Zimmer, mit ausgebreiteten Armen, Blut tropfte auf den Boden. Es war kein ernst gemeinter Selbstmordversuch, sie wollte einfach nur, dass wir sie alle in diesem Moment sehen. Jemand hat sich dann um sie gekümmert. Und man kann mit diesen Leuten letztlich nichts anderes machen als mit allen anderen Menschen: zuhören.

Empfindest du das Songschreiben manchmal als Therapie?

Fitzsimmons: Es ist eher so etwas wie eine Vorstufe. Beim Songschreiben geht es mir darum, die Dinge besser zu verstehen, die ich bisher noch nicht durchblicke. In dieser Hinsicht hat es einen therapeutischen Effekt. Aber mir geht es viel besser, seit mir klar geworden ist, dass man das Komponieren nicht mit einer Therapie verwechseln darf. Als ich The Sparrow And The Crow geschrieben habe, war das mein Versuch, über meine Scheidung hinwegzukommen. Ich dachte: Du schreibst jetzt all diese mega-ehrlichen Texte, du haust das alles raus, und dann wird es dir besser gehen. In Wirklichkeit hat das die Sache aber nur schlimmer gemacht. Jeden Abend musste ich diese Texte singen und mich an diese Scheiße erinnern, und es war niemand da, der mir dabei zur Seite gestanden hätte. Die Leute haben geklatscht, aber ich brauchte dringend Hilfe, ich war wirklich mies drauf. Dann habe ich erkannt: Songschreiben ist hilfreich, aber es ersetzt niemals einen echten Menschen.

Vielen Dank für die Beratung. Ich fühle mich schon viel besser.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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