Tony McCarroll – “Die Wahrheit über Oasis”

Autor Tony McCarroll

Auch nach seinem Rausschmiss bleibt Tony McCarroll ganz eindeutig Fan von Oasis.
Auch nach seinem Rausschmiss bleibt Tony McCarroll ganz eindeutig Fan von Oasis.
Titel Die Wahrheit über Oasis – Mein Leben als Drummer für Oasis
Originaltitel Oasis – The Truth
Verlag Iron Pages
Erscheinungsjahr 2011
Bewertung

“Beschissener Drummer. Beschissene Frisur. Beschissenes Outfit.” Mehr als diese drei Sätze hatte Noel Gallagher nicht übrig für Tony McCarroll, nachdem er ihn gerade aus der Band geworfen hatte. Der frischgebackene Ex-Schlagzeuger von Oasis war zu diesem Zeitpunkt längst derlei Komplimente gewohnt. Er wurde von seinen Bandkollegen während des Videodrehs für Live Forever lebendig begraben. Als Noel Gallagher in einem Radiointerview in den USA von einem Hörer gefragt wurde, ob er jemals eine Penisverlängerung in Betracht ziehen würde, antwortete er: “Oasis haben schon eine Penisverlängerung. Den Drummer.” Und als McCarroll sich für den Rausschmiss mit einer Einmalzahlung von läppischen 550.000 Pfund abspeisen ließ, kam zu all diesen Beleidigungen auch noch der Ehrentitel als “der dümmste Mensch im Popgeschäft” (The Sun) hinzu.

Angesichts solcher Anekdoten ist es einerseits ein Wunder, dass Tony McCarroll es überhaupt bis 1994 in dieser Band ausgehalten hat. Andererseits ist es nur allzu verständlich, dass er sich seinen Frust von der Seele schreiben will, die Möglichkeit einer Rechtfertigung sucht. Die Wahrheit über Oasis – Mein Leben als Drummer für Oasis ist genau dies, und obendrein ein spannender Einblick für allem in die frühen Jahre der erfolgreichsten britischen Rockband der vergangenen 20 Jahre.

Zwischen den Zeilen steckt in diesem Buch überall der Frust, die Reue, der stumme Aufschrei von einem, der vollkommen unverhofft am unendlichen Rausch des Glücks teilhaben durfte, aber letztlich doch mit dem Gefühl zurückbleiben musste, zu kurz gekommen zu sein. Tony McCarroll, der offiziell gefeuert wurde, weil er als Schlagzeuger einfach nicht gut genug für die schnell wachsenden musikalischen Ambitionen von Oasis war, versucht in diesem Buch niemals, sich als meisterhaften Musiker zu inszenieren. Aber er betont dennoch, dass sein Anteil am Aufstieg von Oasis (zu deren Gründungsmitgliedern er – im Gegensatz zu Noel Gallagher – schließlich gehörte) keineswegs gering zu schätzen und vor allem zu respektieren sei. “Erwartet nicht den gemeinen Rundumschlag eines zurückgewiesenen Musikers”, schreibt er im Vorwort. “Ihr sollt einen ehrlichen Entwicklungsbericht von Oasis und ein Verständnis für die Fallstricke des Lebens erhalten – besonders diejenigen, die das Rockgeschäft auslegt.” Immer wieder betont er, dass er die Wahrheit berichtet, die der Buchtitel verspricht.

Die Wahrheit über Oasis – Mein Leben als Drummer für Oasis trägt wenig dazu bei, das Image vom etwas tumben Schlagzeuger abzustreifen, der zu blöd war, das Manchester-Äquivalent eines Sechsers im Lotto vernünftig zu genießen. Die Sprache ist manchmal arg hölzern, gelegentlich zielt McCarroll bei seinen Retourkutschen unnötig weit unter die Gürtellinie und auch die oft alberne deutsche Übersetzung (auf die Idee, das altertümliche “Schnarrtrommel” statt “Snare Drum” zu verwenden, muss man erst einmal kommen; und von “grenzgeilen Melodien” würde wohl auch kein halbwegs ernsthafter deutschsprachiger Musikjournalist mehr schwärmen) und das schlampige Lektorat tragen dazu bei.

Faszinierenderweise zeigt sich Tony McCarroll in diesem Buch aber in erster Linie noch immer als Fan von Oasis. Bonehead preist er als “genialen Musiker”, die herausragende Bedeutung von Liam Gallagher als Frontmann schätzt er völlig richtig ein. “Zudem brachte Liam die Songs ziemlich markig rüber, womit er den Rest von uns beinahe völlig überstrahlte”, schreibt er über einen der ersten Liveauftritte. “Immerzu schoss das Publikum sich auf ihn ein, sogar während der Proben. Wenn er seine Zeilen mit aufsässigem Blick ins Mikro näselte, fühlten sich die Leute gleichzeitig umgarnt wie angegriffen, beeindruckt und beunruhigt.”

Auch Noel Gallagher, der erst später zur Band stieß und während des kometenhaften Aufstiegs von Oasis immer mehr zum Peiniger des Drummers wurde, erfährt hier durchaus respektvolle Würdigungen. McCarroll zeigt sich zutiefst enttäuscht von Noel als Mensch, trotzdem bringt er in diesem Buch immer wieder unverhohlene Bewunderung für ihn als Musiker auf. Die Beziehung der beiden Männer, die spätestens dann zum Psychokrieg wurde, als Oasis ihren Plattenvertrag in der Tasche hatten und Label-Boss Alan McGee sofort die Inthronisierung von Noel als Band-Diktator einleitete, ist hier sicherlich parteiisch, aber sehr spannend nachgezeichnet. Für McCarroll gibt es den “alten” Noel, mit dem er Fußball spielte und durch die Straßen Manchesters zog. Ihn beschreibt er als großen Kumpel, als Beschützer und Autorität. Als Bandleader wurde daraus der “neue Noel”, ein asozialer Egomane.

Neben diesem Konflikt lebt das Buch vor allem von seinen vielen Anekdoten aus der Zeit, als Oasis zunächst noch Nobodys und dann für eine ganze Weile die heißeste Rockband des Planeten waren. McCarrolls Biographie ist durchaus typisch für eine Jugend im Manchester der 1970er und 80er Jahre und für das Milieu, aus dem auch der Rest der Band kam. Fußball und Schlägereien waren angesagt, The Smiths und die Stone Roses. Kurz vor dem Durchbruch mit der Band hat McCarroll, der schon als Teenager Vater einer Tochter geworden war, noch in einer Fleischerei gearbeitet und war dort unter anderem mit dem Entsorgen von Augen, Hirnen und Geschlechtsteilen befasst. Auch mehrere andere Oasis-Mitglieder hatten interessante Nebenjobs: Sie wuschen zeitweise die Autos von Manchester-United-Spielern, unter anderem von David Beckham und Eric Cantona. Für Oasis-Insider sind solche Informationen natürlich Manna, genauso wie die vielen bisher unveröffentlichten Fotos aus den Jahren 1984 bis 1994, die Geschichten von der Beinahe-Schlägerei mit East 17, die überraschende Anekdote, dass ausgerechnet Blur ihnen bei einem Auftritt 1994 in San Francisco vom Bühnenrand aus zusahen und die Geschichte, in der Noel und Liam sich an der kanadischen Grenze um einen Staubsauger stritten.

Auch mit Blick auf die Musik liefert Die Wahrheit über Oasis – Mein Leben als Drummer für Oasis durchaus Erhellendes. An erster Stelle ist hier der große Einfluss zu nennen, den die frühen Sessions mit The Real People in Liverpool offensichtlich auf die Band ausübten. Nicht zuletzt entlarvt McCarroll zumindest ein bisschen auch den Mythos von Oasis. Ein nicht geringer Teil des Rabaukentums der wilden Jahre sei inszeniert gewesen, schreibt er, vor allem bei Noel und vor allem nach dem Tip von Alan McGee, Oasis sollten das ultimative Rock’N’Roll-Leben propagieren, um Schlagzeilen zu machen und die Verkäufe anzukurbeln.

Das Buch zeigt zwar auch, dass es wenig Anstiftung brauchte, wenn man geborene Chaoten und Unruhestifter wie Bonehead in der Band hat. Aber McCarroll illustriert mehr als glaubhaft, wie formbar die Band in ihren Anfangsjahren noch war, und wie sehr sie wusste, dass sie auch von ihrem Image lebt. Zu diesem Image gehörte nicht zuletzt das Credo von der Gang, dem Männerbund, der zusammenhält wie Pech und Schwefel und gemeinsam durch dick und dünn geht. Dieses Versprechen war für den Erfolg von Oasis fast genauso entscheidend wie die Killersongs von Noel Gallagher oder die einmalige Stimme von Liam. Es ist wohl genau das, was Tony McCarroll fast 20 Jahre nach seinem Rauswurf noch immer so bitter aufstößt: Oasis gründeten sich auf Loyalität – und genau die wurde ihm verwehrt.

Die beste Stelle ist Tony McCarrolls Kommentar zum Ausstieg von Noel Gallagher bei Oasis: “Dass er Verbalattacken als einen der Gründe für die Auflösung vorschiebt, ist nichts weniger als lächerlich. Jahrelang pflegte er selbst, seine Mitmenschen mit Füßen zu treten. Hatte sich da wer an seiner eigenen Bitterkeit verschluckt?”

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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