Futter für die Ohren mit Tocotronic, Eels, Cat Power, White Lies und Deep Throat Choir

Tocotronic Jugend ohne Gott gegen Faschismus
Tocotronic klingen wieder nach Statement, aber nicht explizit. Foto: Universal Music / Gloria Endres de Oliveira

Vielleicht liegt es ja daran, dass ihnen der Albumtitel Pure Vernunft darf niemals siegen aus dem Jahr 2005 unlängst um die Ohren geflogen ist, als Querdenker, Esoteriker und Freunde alternativer Fakten angefangen haben, den öffentlichen Diskurs vor sich her zu treiben und mit ihrer Leugnung von Tatsachen und wissenschaftlichen Grundprinzipien weiterhin dafür sorgen, dass sich der (vernünftige) Rest der Gesellschaft noch ein bisschen länger mit all den schlimmen Auswirkungen der Corona-Pandemie herumschlagen darf. Jedenfalls haben Tocotronic für ihre neue Platte einen Titel gewählt, der vermeintlich keinerlei aktuellen Bezug hat: Nie wieder Krieg wird das Werk heißen, das am 28. Januar 2022 als 13. Studioalbum der Band erscheint. Als Themen benennt die Plattenfirma “allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein, Einsamkeit, Angst, aber auch Träume und Liebe”. Auch das klingt ziemlich allgemein und würde als Zusammenfassung womöglich auch für die neue Platte von Adele (oder alle bisherigen von Tocotronic) passen. Dass das Quartett aus Hamburg aber keineswegs die Lust verloren hat, das Zeitgeschehen musikalisch (wenn auch nicht mehr so explizit wie in seinen Anfangstagen) zu kommentieren, zeigt Jugend ohne Gott gegen Faschismus (***) als erste Single des Albums, bezeichnenderweise kurz vor der Bundestagswahl veröffentlicht. Der Bezug zu Ödon von Horváth ist ebenso klar wie das Statement gegen die AfD. Der Sound setzt auf viel Hall und eine Bottleneck-Gitarre, das klingt ein wenig wie Graham Coxon ohne Biss, also leider nicht so jung und wild wie es mit seinen Skateboard-Bezügen im Text und im Video offensichtlich gerne wäre. Und wie zuletzt stets bei Tocotronic hat man auch hier den Eindruck, dass das zwar ein guter Slogan ist, aber bei weitem nicht so viel dahinter steckt, wie es eigentlich sein sollte.

Bleiben wir noch ein bisschen bei unerwarteten Covid-19-Effekten, sozusagen musikalischen Nebenwirkungen. Denn zu denen gehört auch Extreme Witchcraft, das ebenfalls für 28. Januar 2022 angekündigte neue Album der Eels. Die erste Single Good Night On Earth (***1/2) geht auf ein bisschen Nostalgie zurück, die sich während des Lockdowns breitmachte. Genauer gesagt nahm Mark Oliver Everett alias E wieder den Kontakt mit Regisseur Mark Romanek auf, der vor einem Vierteljahrhundert das allererste Eels-Video für Novocaine For The Soul gedreht hatte. “Mark, von dem ich jahrelang nichts mehr gehört hatte, erzählte mir, dass er gerade eine heftige Souljacker-Phase durchläuft und dieses Album sehr oft hört”, erzählt E. Der Hinweis auf das Eels-Album aus dem Jahr 2001 brachte ihn auf die Idee, sich mal wieder bei John Parish zu melden, der damals diese Platte produziert hatte. Daraus wurde erst ein nettes Gespräch, dann ein permanenter Ideenaustausch zwischen Bristol und L.A. (“Das Aufnehmen während einer Pandemie war ziemlich ungewohnt für mich. Ich schlich mich um 4 Uhr morgens aus dem Bett, um das Neueste zu hören, was John geschickt hatte, und versuchte, meinen Part hinzuzufügen und es ihm schnell zurückzuschicken, bevor mein vierjähriger Sohn aufwachte”, erzählt E) und schließlich das vierzehnte Eels-Albums. “John Parish ist einer der ausgeglichensten, höflichsten Menschen, die ich je getroffen habe”, sagt E. “Aber wenn er ins Studio geht, wird er zu einem verrückten Wissenschaftler. Wenn du mit John Parish Musik machst, bekommst du Sachen, die sonst keiner macht. Er hat einen wirklich einzigartigen Werkzeugkasten und eine einzigartige musikalische Sichtweise.” In der Tat erzeugt der Song mit Fuzz-Gitarre und hektischem Rhythmus sofort die rohe Dringlichkeit, die Eels-Fans aus der Souljacker-Phase kennen. Überraschend ist dabei die erstaunlich positive Aussage, die schon aus dem Songtitel spricht. “Es ist schwer in diesen Tagen, sich nicht darauf zu versteifen, wie beschissen der Zustand der Welt ist”, hat Mark Oliver Everett erkannt. Er weiß aber auch: “Deshalb ist es wichtig, die guten Momente zu schätzen, wenn man das Glück hat, sie zu erleben.”

Ein Thema, das man sich auch sehr gut im Oeuvre der Eels hätte vorstellen können, haben White Lies für ihre neue Single gewählt: As I Try Not To Fall Apart handelt davon, dass Männer durchaus Schwächen und Verletzlichkeit zeigen dürfen, auch wenn das unter ihnen meist noch völlig unüblich ist. Der Song offenbart tatsächlich eine entsprechende Sensibilität und Vielschichtigkeit, rund um die Zeile “It’s not the way a man like me behaves”. Regisseur James Arden alias The Trash Factory hat für den Videoclip ebenfalls eine passende Idee gefunden: “Der Song hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie wir von unseren Gefühlen und Emotionen begraben und überwältigt werden können, und wie wir das visuell erforschen können.” Im Ergebnis durfte sich Sänger Harry McVeigh während der Dreharbeiten einer stetigen Sand-Dusche aussetzen: “Das Gefühl war wirklich gruselig und ich habe mir tagelang den Sand aus den Ohren gepickt, aber ich bin begeistert von dem Video. Es transportiert wirklich die Botschaft des Songs und es sieht wunderschön aus”, sagt er. As I Try Not To Fall Apart ist der erste Vorbote für das gleichnamige Album der Band aus London, das am 18. Februar 2022 herauskommt und von Claudius Mittendorfer (Weezer, Panic! At The Disco) produziert wurde. “Wir haben diesen Song schnell geschrieben, spät in der Nacht. Oft werden die Songs, die so spontan entstehen, eher aus dem Bauch und dem Herzen geschrieben, nicht mit dem Kopf”, sagt die Band. “Es gab noch nie eine dringendere Zeit, um die Botschaft zu verbreiten, dass es ok ist, nicht ok zu sein.”

Aus London grüßt auch der Deep Throat Choir, bekanntlich ausschließlich aus weiblichen und nicht-binären Mitglieder*innen bestehend. Mit In Order To Know You (****) veröffentlicht das Ensemble jetzt den Titeltrack zum neuen Album, das am 3. Dezember erscheinen wird. So spektakulär das Cello darin ist und so ungewöhnlich der Beat das Lied trägt, so sehr bleibt doch das magische Zusammenspiel dieser Stimmen im Mittelpunkt, vor allem im wundervoll innigen Finale des Songs. “Der Name In Order to Know You spricht für das Album als Ganzes”, erzählt Chorleiterin Louisa Gerstein. “Wir haben diese Musik gemacht, um uns besser kennen und verstehen zu lernen, und das ist es, was Musik im Allgemeinen ist. Das ist unsere Botschaft für uns gegenseitig und für die Hörer*innen.”

Die pure Freude am Singen ist sicher auch eine wichtige Triebfeder, wenn sich Chan Marshall alias Cat Power des Materials anderer Künstler*innen annimmt. Mit dem Album Covers (Veröffentlichung am 14. Januar 2022) macht sie daraus jetzt schon zum dritten Mal eine Platte, auf der sie die eigenen Versionen einiger ihrer Lieblingslieder versammelt, nach The Covers Record (2000) und Jukebox (2008). “Covers zu spielen ist eine sehr angenehme Art, etwas zu tun, was sich für mich beim Musikmachen ganz natürlich anfühlt”, sagt sie, und dieser Mix aus Unbefangenheit und Hingabe ist es sicher auch, der Pitchfork zu der Aussage gebracht hat, Cat Power könne “einen Song neu arrangieren, indem sie ihn einfach anschaut”. Diesmal hat sie Originale unter anderem von Iggy Pop, Nick Cave und Frank Ocean ausgewählt, dazu Unhate, eine überarbeitete Version ihres eigenen Songs Hate, der 2006 auf dem Album The Greatest zu finden war. Ihr Lieblingslied unter den elf neuen Coverversionen ist nach eigenen Angaben A Pair Of Brown Eyes (****), ursprünglich von den Pogues. Von der bierseligen und vergleichsweise üppig instrumentierten Schunkelatmosphäre des Originals bleibt in ihrer Fassung nichts erhalten, stattdessen gibt es ein Gefühl von Verlorenheit und pure Intensität, die durch das ganz sparsame Schlagzeug am Ende sogar noch einmal gesteigert wird. Sehr hübsch.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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